Vor einigen Wochen machte er sogar Schlagzeilen in den deutschen Medien: in Lettland wurden detaillierte Angaben zu den Verdiensten gut verdienender Manager, bekannter Geschäftsleute und Behördenchefs illegal veröffentlicht - kurzerhand per Twitter. In Zeiten staatlich aufgekaufter Daten-CDs mit Adressen von Steuersündern ist dies offenbar auch in Deutschland ein Thema. So produzierte der Mann mit dem Decknamen NEO eine Zeitlang Schlagzeilen, von "der Robin Hood von Riga" (Spiegel /Süddeutsche) über "Lettlands digitale Rebellen" (Welt) und "Hacker der Herzen" (Frankfurter Rundschau) bis zum "Alptraum lettischer Eliten" (presseurop). Im ARD Europamagazin wurde im April noch spekuliert, "Neo" lebe wahrscheinlich im Ausland. Aber was war eigentlich passiert, und was ist so ungewöhnlich daran?
Datenlecks und die Neugier
Ilmārs Poikāns, ein Wissenschaftler am Institut für Mathematik und Informatik der Universität Lettlands, wurde eines Tages von einer Firma angefragt, ob er einige Dokumente mit einer digitalen Signatur versehen könnte, die bei den staatlichen Finanzbehörden eingereicht werden sollten. Als er dies versuchte, gelang es ihm zunächst nicht, die Dokumente online per Internet zu öffnen. Eine Diskussion mit der zuständigen Buchhaltung folgte, bis Poikāns entdeckte dass er die Dokumente einfach mit Hilfe eines ihm zugeschickten Links öffnen konnte. Und nicht nur das: plötzlich hatte er Zugang zu einer Menge anderer Daten. Verwundert nahm der das zunächst zur Kenntnis und schaute nach ein paar Tagen nochmal nach. Immer noch nicht war das "Datenleck" von der Behörde geschlossen worden. Poikāns beschwört auch, dass sein so entstandener Kontakt mit der Finanzbehörde nicht auf irgendwelchen persönlichen Beziehungen beruht habe. Aber einmal aufmerksam geworden, lud er sich die Datenlisten herunter und entdeckte so, dass er es mit aktuellen Gehaltslisten aus verschiedenen Bereichen zu tun hatte.
Hacker wider Willen?
Ein Volumen von 120 Gigabyte und 7,4 Millionen Datensätzen brachte Poikāns nun im Internet via Twitter operierend unter dem selbst gewählten Namen "neo" an die Öffentlichkeit. Es waren so interessante Gehaltslisten dabei wie diejenige der am Flughafen Riga Beschäftigten, vom staatlichen Energieversorger LATVENERGO, den Straßenverkehrsbehörden sowie Hafenverwaltungen, von Ministerien und Kommunalverwaltungen, und auch die PAREX-Bank, die 2008 vor der Pleite gerettet werden musste. Interessant deshalb, weil die lettische Regierung in Folge der Wirtschaftskrise ein von der Weltbank auferlegtes striktes Sparprogramm abarbeiten muss und schon im Frühjahr 2009 teilweise erhebliche Gehaltskürzungen vornahm. Die von Poikāns entdeckten Listen zeigen nun in vielen Fällen, dass viele Spitzenmanager und Behördenchefs sich selbst wohl von Kürzungen ausgenommen haben - und sich hübsch weiter pralle Gehaltssummen genehmigten.
Am 11.Mai war es dann vorbei mit dem klammheimlichen "Rächertum". Die Polizei startete umfangreiche Durchsuchungen, und bald darauf wussten auch die Medien, dass hinter dem vermeindlichen Held Neo ein relativ braver, ordentlich gekleideter und eher harmlos aussehender 31-jähriger junger Wissenschaftler steckte. Polizeilich durchsucht wurden sein Arbeitsplatz, seine Wohnung, die Wohnung seiner Eltern sowie zwei weitere Orte. Verdächtig erschien der Polizei auch der Kontakt Poikāns' mit der Journalistin Ilze Nagla, deren Wohnung ebenfalls durchsucht und deren Notebook beschlagnahmt wurde. Bei Telefongesprächen mit ihr habe er aber seine Stimme verstellt, erkärte Poikāns, so dass sie ihn nicht habe erkennen können, obwohl die beiden privat miteinander bekannt gewesen seien. Nagla hatte über die Arbeit von NEO berichtet. 120 Journalisten unterzeichneten aufgrund der polizeilichen Durchsuchungsaktion eine Petition, die sich gegen derartige Zensurmaßnahmen wendet und so die Freiheit der Presse gefährdet sieht.
Fehlende Transparenz
Was lehrt der Fall Poikāns? Nun, wer in Lettland lebt, und die erschwerten Bedingungen des Gelderwerbs und des materiellen Überlebens kennt, wird vor allem die Ungerechtigkeit der fehlenden öffentlichen Transparenz solcher Zustände beklagen. Aleksejs Loskutovs, vor einiger Zeit von der Regierung abgesetzter Chef der lettischen Antikorruptionsbehörde, vertritt nun als Anwalt die Interessen von Ilmārs Poikāns. Zunächst nach Aufdeckung seiner Identität in Haft, kam Poikāns schnell wieder frei. Poikāns ist verheiratet, das Paar hat zwei Kinder. Aber ob ihm eine Strafe bevorsteht, und falls ja wie hoch diese ausfallen könnte, ist immer noch unklar. Angeblich steht auf "illegales Eindringen in eine Regierungsdatenbank" eine Strafe von bis zu 10 Jahren Gefängnis.
Karrierepläne für NEO?
Aber Lettland wäre nicht Lettland, wenn es bei diesen nakten Fakten bliebe. Zunächst einmal halten sich hartnäckig Gerüchte, Poikāns habe nicht allein gehandelt. Das liegt einerseits an einer gewissen lettischen Vorliebe für alles Vernebelte und Vernebelbare (man glaubt gern, dass noch mehr hinter allem Weltgeschehen steckt als sich der gewöhnliche Mensch vorstellen kann). Dem wirken auch die Polizeibehörden nicht entgegen, wenn sie bis zum heutigen Tage die Untersuchungen dazu für nicht abgeschlossen erkären. Außerdem hatte Poikāns selbst im Februar im Rahmen von Sendungen des Lettischen Fernsehens (LTV) angekündigt, die von ihm ausgerufene "4. atmodas armijas (4ATA)" (Armee des vierten Erwachens) bestehe aus insgesamt drei Personen.
Und weiterhin gäbe es ja Möglichkeiten, die gewachsene Beliebtheit eines "gewöhnlichen Letten" wie Poikāns nun politisch auszunutzen. Bereits die Übernahme der Verteidigung durch Loskutovs, der inzwischen in der parteiähnlichen Vereinigung „Sabiedrība citai politikai” (Gesellschaft für eine andere Politik) aktiv ist, könnte als Zeichen politischer Instrumentalisierung verstanden werden - denn im Herbst stehen in Lettland Parlamentswahlen an.
Vergeblich beteuerte Poikāns schon früh nach seiner Entlarvung: "Mich interessiert Politik nicht." (Portal IR) Eher genüßlich berichtet NRA heute davon, dass Poikāns sich einer Führung durch das Gebäude des lettischen Parlaments angeschlossen habe; "Nein, ich besuche hier nicht meinen zuküftigen Arbeitsplatz", wurde seine Aussage zitiert.
Einer der wegen Korruptionsaffären und Geldschiebereien berüchtigsten politischen Figuren Lettlands, Aivars Lembergs, der es trotz vielerlei Anklagen inzwischen wieder auf den Stuhl des Bürgermeisters von Ventspils geschafft hat, versucht denn auch allein die bloße Existenz des "Neo-Faktors" für sich selbst zu nutzen. Es müsse vermutet werden, dass Neo ein purer Wahlkampftrick bestimmter politischer Gruppen sei, ließ sich Lembergs in der NRA zitieren, einer Zeitung die Lembergs selbst gehört.
Wer sich für die Irrungen und Wirrungen der Alltagspolitik Lettlands interessiert, wird auf Dauer offenbar nicht gelangweilt.
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