Im von der Wirtschaftskrise stark getroffenen Lettland kam auf Druck von Präsident Valdis Zatlers zu Jahresbeginn 2009 ein neuer Regierungschef an die Macht, der erst 37jährige Valdis Dombrovskis von der damals oppositionellen Neuen Zeit. Ihm standen zahlreiche unangenehme Wahrheiten und politische Aufgaben bevor.
Um die Ausgaben des Staates zu senken, wurde kurz nach Amtsantritt im Rahmen der Verhandlungen mit dem Weltwährungsfond und anderen Kreditgebern im Frühjahr unter anderem beschlossen, die Renten um zehn Prozent zu kürzen und jenen Rentnern, die neben ihrem Rentenbezug arbeiten und somit ein weiteres Einkommen beziehen, sogar 70% der Alterseinkünfte zu streichen.
Diese Maßnahme war insofern einschneidend, als arbeitende Rentner wegen der geringen Renten in Lettland keine Seltenheit sind. Typischerweise arbeiten sie dort, wo mehr Anwesenheit als Tätigkeit gefordert sind, etwa als Nachtwächter oder Garderobiere oder auch in Positionen, die in westeuropäischen Staaten entweder automatisiert oder generell nicht vorgesehen sind. Dazu gehört etwa das Kassieren in einer öffentlichen Toilette oder der Empfang in einem Studentenwohnheim, um nur zwei Beispiele zu nennen.
Diese Kürzung erwies sich als so hoch, daß es sich für die alten Herrschaften nicht mehr lohnte, welche sich ihr Budget etwas aufbesserten. So tauchten im Sommer 2009 in den genannten Positionen plötzlich ungewohnt junge Gesichter auf.
Etwa 9.000 Rentner klagten Gegen jedoch gegen den Beschluß der Regierung vor dem Verfassungsgericht, dessen ehemaliger Präsident, Aivars Endziņš, in einem Radiointerview im Herbst erinnerte, das Gericht habe sich bereits früher mit Rentenfragen beschäftigt und sei auch damals zu dem Schluß gekommen sei, daß derartige Einschnitte nicht verfassungskonform sind. Die Rentner hätten für ihr Altersruhegeld einbezahlt und ein Recht auf diese Zahlung. Er prognostizierte auch in diesem Fall ein Urteil, welches die Ansprüche der Ruheständler bestätigt.
Die innenpolitisch und international unter Druck stehende Regierung würde über einen solchen Richterspruch verständlicherweise wenig erfreut sein. Trotzdem handelte das Verfassungsgericht wie von seinem ehemaligen Präsidenten prognostiziert. Dombrovskis Parteifreund und Parteigründer, Einars Repše, erklärte in seiner Funktion als Finanzminister dieses Urteil für unverantwortlich. Dombrovskis tat sich im Radio schwer mit einer Erklärung für die Äußerungen seines Kabinettmitglieds. Er schob es auf eine Bewertung der Haushaltslage und betonte seinerseits, die Umsetzung des Verfassungsgerichtsurteils sei keine Frage, einzig bezüglich der Finanzierung bestünde Entscheidungsbedarf. Der Regierungschef sagte, man werde nun mit den internationalen Geldgebern darüber sprechen müssen. Diese hätten ein Defizit von bis zu 8,5% erlaubt, wovon Lettland bislang nur 7,5 ausgeschöpft habe. Die Rentner möchten nunmehr wissen, ab wann sie ihr Altersruhegeld wieder werden im vollen Umfang beziehen können und wann der Staat seine Schulden für die vergangenen Monate begleicht. Dombrovskis erklärte, ab März würden die Rente wohl wieder ausbezahlt, doch 100 Millionen Lat, etwa 150 Millionen Euro, Schulden für die Monate seit dem 1. Juli könnten nicht in einer Woche ausbezahlt werden. Das Sozialministerium spricht von einem Zeitraum sogar bis zu zwei Jahren.
Obwohl das Urteil des Verfassungsgerichts eine herbe Niederlage für die Regierung ist und vor allem auch für die Partei des Regierungschefs, die Neue Zeit, welche schließlich auch das Finanzministerium besetzt, sind ganz andere Themen in Lettland Mittelpunkt der Medienaufmerksamkeit. Unablässig bereits seit Amtsantritt von Dombrovskis wird über die Stabilität der Regierung gesprochen. Die Frage der verfassungswidrigen Rentenkürzungen spielt überraschenderweise überhaupt keine Rolle. MdEP und Vorsitzender des kleineren Koalitionspartner Für Vaterland und Freiheit, Roberts Zīle, stellt sich als Wirtschaftsexperte auf den Standpunkt, den Kreditgebern müsse nun erklärt werden, woher das Problem der Mehrausgaben rühre und bezweifelt, daß ein Rücktritt der Regierung gegenwärtig Sinn macht, Wer sollte an deren Stelle treten, fragt er rhetorisch.
Nichtsdestotrotz hat ein halbes Jahr Gesetzeskraft einer verfassungswidrigen Regel Fakten geschaffen. Werden die früher werktätigen Rentner an ihre Arbeitsstellen zurückkehren wollen und können?
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