Die Krise in Lettland hat wie in den USA eine wesentliche Ursache: die Bevölkerung hat über ihre Verhältnisse gelebt. In beiden Ländern gab es eine Spekulationsblase im Immobilienbereich. Damit aber erschöpfen sich bereits die Gemeinsamkeiten.
Finanzmarkt und Realwirtschaft
Während es in den USA eine Produktion gibt, hat der Autor dieser Zeilen in seinem ersten lettischen Zeitungsartikel vor Jahren bereits darauf hingewiesen, daß die vielen Neuwagen und Mobiltelefone in Lettland nicht mit unbehandeltem Holz und Damenunterwäsche dauerhaft finanziert werden können. Inzwischen beschränkt sich die Wirtschaftsleistung Lettland weitgehend auf das unbehandelte Holz, denn was es an Textilindustrie vor zehn Jahren noch gab, ist angesichts der Lohnkostenentwicklung und sicher auch einer falschen Produktpolitik weitgehend verschwunden.
In den USA haben die Menschen auf Pump gelebt und eine gute Weile darauf spekulieren können, daß der Wert ihrer mit Krediten erworbenen Häuser im Laufe der Zeit steigt, und dann irgendwann die Liegenschaft mit Gewinn verkauft und nach dem Auszug der Kinder eine kleinere Unterkunft erworben werden kann. Das war in Lettland nicht so. Selbstverständlich wurde mit ganzen Gebäuden und Eigentumswohnungen im historischen Jugendstilviertel von Riga spekuliert. Das trifft aber nicht zu auf die heruntergekommenen Holzhäuser in der Moskauer Vorstadt oder die Plattenbauten von Ķengarags oder Iļģuciems, die überwiegend in den 70er Jahren für eine Lebensdauer von 30 Jahren errichtet worden waren, ganz zu schweigen von Immobilien ähnlicher Qualität in den Klein- und Kleinststädten.
Selbstverständlich haben auch hier die Preise in den letzten zehn Jahren angezogen. Und genau hierin liegt im Unterschied zu den USA die Ursache der Krise in Lettland. Mit Hilfe eines Kredites eine Wohnung zu kaufen, war in den nach Aigars Kalvītis „fetten Jahren“ billiger, als eine Wohnung zu mieten. Die monatlichen Zinsen waren geringer als der Betrag, den Vermieter verlangt haben. Die in Lettland Kommunalgebühren genannten Betriebskosten müssen auch bei privatisierten Wohnungen an das die Mehrfamilienhäuser bewirtschaftende, sogenannte Kooperativ gezahlt werden.
Die Banken in Lettland haben auch nicht wie in den USA Kredite an Personen vergeben, deren Kreditwürdigkeit von vornherein in Zweifel zu ziehen war, sondern nur an solche, die wenigstens für örtliche Verhältnisse ordentlich verdienen haben.
In Lettland gab es somit sehr wohl jene, bei denen die „fetten Jahren“ nicht ankamen. Viele, die vor der Arbeitslosigkeit auf dem Lande nach Riga geflohen waren, konnten sich hier gerade einen Schlafplatz leisten. Konkret heißt dies, daß in einer Wohnung mit mehreren Zimmern in jedem davon gleich mehrere Personen wohnen.
Woher kommt dann die Krise in Lettland?
Gewiß, in Lettland wurden Kredite auch an Interessenten vergeben, die in einem westeuropäischen Land ohne Zweifel von der Bank eine Absage erhalten hätten; ebenso waren entsprechende Sicherheiten nicht vorhanden, die im Falle einer Wohnung im Plattenbau auch das erworbene Objekt selbst nicht bot. Der einmalige Kauf machte für den Einzelnen noch Sinn, nicht jedoch eine ggf. erforderliche Zwangsversteigerung.
Kredite wurden aber nicht nur gewährt und in Anspruch genommen, um mit Immobilien in die eigene und die Zukunft der Kinder zu investieren. Vielmehr gab es umfangreiche Leasingangebote, die gerne für moderne und teilweise auch luxuriöse Autos verwendet wurden. Selbst Schweizer Besucher fühlten sich beim Besuch Rigas zu Kommentaren hingerissen, daß auf so engem Raum sie nicht einmal daheim solche Fahrzeuge sehen würden.
Das alles war natürlich nur möglich, weil salopp formuliert, die Banken in den Markt wollten und teilweise aggressiv entsprechende Angebote unterbreitet haben.
Und dieser Trend zum Konsum auf Pump zog sich hin bis zu Kleinstkrediten, also letztlich Ratenkauf – wofür im Einzelhandel oft auch mit dem verzicht auf eine Anzahlung geworben wurde.
„Fette Jahre“ mit verdächtigen Kennziffern
Damit allein ist die Krise jedoch nicht zu verstehen. Dem Kauf auf Kredit steht auch ein Verkäufer gegenüber, welcher über die gesamte Kaufsumme sofort verfügt. Und diese Gelder gingen ebenfalls vorwiegend in den Konsum und nicht in Investitionen.
Es nimmt also kein Wunder, wenn der Anteil des Einzelhandels an den hohen Wachstumsraten der vergangenen Jahre verdächtig hoch, das Außenhandelsdefizit größer war als in Südostasien vor der Krise der 90er Jahre. Und es war auch nicht überraschend, daß 2007 und 2008 die Inflation in Lettland, aber auch den baltischen Nachbarstaaten, ungekannte Ausmaße erreichte und zweiteilig beinahe bei 20% lag.
Bei den Letten hingegen sind volkswirtschaftliche Kenntnisse nicht verbreitet. Sie verwechselten den hohen Nennwert ihrer nationalen Währung, 1 Lat ist bereits 1,50 Euro, mit einem hohen Wert ihrer Währung an und für sich.
Aber dies waren nur die hausgemachten Probleme.
Mit dem Beitritt zur EU öffneten Großbritannien und Irland ihre Arbeitsmärkte für die neuen Mitgliedsländer sofort. Eigentlich eine Geste, die im Gegensatz zum Protektionismus anderer Staaten im Rahmen der Globalisierung als Schritt einer liberalen Politik anzusehen ist.
In der Folge verließen viele Menschen aus dem Baltikum und Polen ihre Heimat, um für mehr Geld teilweise auch minderwertigere Arbeit zu verrichten. Dies aber war nicht nur ein persönliches Schicksal, sondern zog Arbeitskräfte ab aus einem heimischen Markt, in dem ebenfalls gerade die Bauwirtschaft boomte. Hier mangelte es nun an Arbeitern, weshalb die Löhne in Lettland unverhältnismäßig stark und schnell stiegen. Es kann kaum mit der Produktivität erklärt werden, wenn Einkommen plötzlich jährlich um ein Drittel steigen.
Die Diskussion über Gastarbeiter aus Weißrußland oder Moldavien wurde zwar geführt, aber nicht entschieden. Und so trug die Immobilienblase noch zu den Auswüchsen des Lohnsektors bei. Das wiederum ähnelt Island.
Gewöhnlicher Krisenbeginn und dramatische Folgen und Stilblüten
Der Kollaps in Lettland wurde schließlich durch ein Ereignis ausgelöst, mit dem sich zahlreiche andere Regierungen in Europa während der letzten Monate ebenfalls konfrontiert gesehen hatten. Der einzigen tatsächliche lettischen Bank, die Parex Banka, drohte das Ende. Dies wurde noch dadurch verschärft, daß die Letten den Zusammenbruch der Banka Baltija 1995 noch in guter Erinnerung haben. Die Menschen stürmten, anders als in Deutschland und ähnlich wie bei der schottischen Northern Rock, die Schalter und zogen ihre Einlagen ab, was den drohenden Bankrott noch beschleunigte.
Die Parex Bank war insofern systemrelevant, wie die jüngste Wortschöpfung heißt, weil der Großteil der staatlichen Institutionen ihre Bankgeschäfte über dieses Institut abwickeln.
Der Staat wäre nun ohne die Hilfe Europas und des IWF zahlungsunfähig. Die ersten Gegenmaßnahmen wurden getroffen, die Mehrwertsteuer zum 1. Januar um drei Prozent erhöht und die Einkommen für alle Staatsbediensteten gekürzt. Viele Mitarbeiter wurden sogar entlassen. Das gilt selbstverständlich auch für die Privatwirtschaft.
Da viele Menschen ihre Arbeit verloren oder drastische Einkommensausfālle von in manchen Fällen bis zu 40% zu verkraften haben, droht ebenfalls die Zahlungsunfähigkeit von Privathaushalten, weil die Menschen ihre Kreditverbindlichkeiten nicht mehr bedienen können.
Doch damit nicht genug: Nicht erst seit Wochen oder Monaten, sondern eigentlich schon seit Jahren wird immer wieder über eine Abwertung der Landeswährung Lats spekuliert. Erst im vergangenen Herbst wurde wegen der Verbreitung von Gerüchten ein Hochschullehrer zwei Tage von der Polizei festgehalten und ein Sänger immerhin vernommen. Dies ist ein Zeichen für die Nervosität der Behörden und den Notenbank. Die Skeptiker, die sich vor der Einführung der Gemeinschaftswährung Euro in Deutschland zu Wort gemeldet hatten, sind damals wie jetzt wegen ihrer Zweifel bestenfalls publizistisch angegriffen worden.
Abwertung als Rezept?
Selbstverständlich ist die Abwertung neben einem (noch) drastischeren Sparkurs eine mögliche Strategie zur Verhinderung der Zahlungsunfähigkeit. Aber weil die Krise in Lettland andere Ursachen hat, hat sie auch andere Folgen.
Selbstverständlich würde eine Abwertung Exporte verbilligen und Importe verteuern. Während letzteres kein Nachteil für die heimische Wirtschaft sein sollte, es schränkte den ungestümen Konsum von Konsumgütern ein, so liefe ersteres in die Leere – was exportiert Lettland?
Eine Abwertung der Währung würde die Schwierigkeiten bei der Bedienung von Krediten noch einmal deutlich verschärfen. Denn weil die Landeswährung trotz ihres hohen Nennwertes (1 LVL=1,50 Euro) eben keine Hartwährung ist, nach der sich andere Volkswirtschaften die Finger schlecken, haben die meisten ihre Kredite in Fremdwährungen aufgenommen, vorwiegend in Euro, aber auch in Schweizer Franken und Yen. Und da die Kreditnehmer vorwiegend junge Menschen sind, träfe eine Abwertung gerade den produktiven Teil der Gesellschaft am heftigsten. Eine soziale Katastrophe könnte folgen. Und das scheut das offizielle Lettland wie der Teufel das Weihwasser.
Wegen der seit dem EU-Beitritt festen Wechselkursbindung an den Euro wäre die Abwertung nicht allein auf nationaler Ebene entscheidbar, sondern nur in Zusammenarbeit mit der Europäischen Zentralbank. Innerhalb der Europäischen Union gibt es ebenfalls einer Abwertung entgegenstehende Interessen.
Die international engagierten Banken haben schon genug Summen abschreiben müssen. Da in Lettland vorwiegend große Häuser aus Skandinavien aktiv sind wie SEB und Swedbank, würde gerade Schweden sehr viel verlieren.
Der vor allem im Nahrungsmittelbereich umfangreiche innerbaltische Handel würde durch eine Abwertung der nationalen Währung in nur einer Republik das Gleichgewicht aus den Fugen bringen.
Was also tun?
Es besteht kein Zweifel, daß die Regierung Lettlands, werde sie nun von Valdis Dombrovskis geführt oder von jemand anderem, vor der Wahl zwischen Teufel und Beelzebub steht.
Der scheidende Ministerpräsident Ivars Godmanis hat bereits in einem Zeitungsinterview sein Unverständnis über den Sturz seiner Regierung gegrummelt: Es wäre seiner Ansicht nach vernünftiger gewesen, unpopuläre Entscheidungen noch seinem Kabinett aufzubrummen, um nach der Europa- und Kommunalwahl eine neue Regierung zu bilden. Dahingegen behaupten Beobachter, daß die Königsmörder Volkspartei und Grüne und Bauern an der Bereitschaft der Partner zweifelten, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, und aus diesem Grunde das Bündnis erweitern wollten
Jetzt hat Dombrovskis die Erste Partei / Lettlands Weg aus dem Boot geworfen, weil erstens auch ohne sie die Regierungsfraktion auf 64 Mandate kommen und zweitens diese Partei ultimativ am Verkehrsministerium festhalten wollte. Damit hat er nun aber die Königsmörder verärgert, die ihrerseits an der Bündnistreue bei der Neuen Zeit des designierten Regierungschefs ebenso zweifeln wie an der Bürgerlichen Union.
Und in der Tat, deren Fraktionsvorsitzende Anna Seile hat bereits angekündigt, nicht ohne wenn und aber für jeden schmerzhafte Vorschlag zu stimmen. Dem schlossen sich die Abgeordneten Janīna Kursīte-Pakule von der Bürgerlichen Union und Inguna Rībene von der neuen Zeit an, die ihr Gewissen und die Bedeutung der kulturellen Bildung in Lettland vorschoben.
Zweifel bestehen aber nicht nur bei den bislang oppositionellen Kräften. Auch die Bildungsministerin von den Grünen und Bauern, Tatjana Koķe, stellte angesichts des Sparzwangs ihre Bereitschaft in Frage, für das Amt erneut zur Verfügung zu stehen.
Situation bleibt undurchsichtig
Ob Godmanis’ Bereitschaft, alle Unbill auf sich zu nehmen einer staatsmännischen Einstellung oder einem anderen Kalkül geschuldet ist, mag zunächst dahingestellt bleiben. Beinahe erwecken all diese Konflikte um und während der Regierungsbildung den Eindruck, als hätten die Politiker und Parteien vergessen, daß Ende des Monats der Präsident mit einer möglichen Parlamentsauflösung droht.
Daß die Forderungen des Ultimatums in diesem Zeitraum zu erfüllen sind, ist so gut wie ausgeschlossen, zumal die Parteien jetzt genug Zeit mit der Regierungsbildung verbracht haben, welche überdies noch nicht einmal abgeschlossen ist.
Fraglich ist aber auch die Ernsthaftigkeit der Drohung, den Präsident Zatlers spielt ggf. mit seinem Amt. Lehnt das Volk im obligatorischen Referendum das Ansinnen des Staatsoberhauptes ab, so muß er selbst abtreten. Zwar geben zwei Drittel der Bevölkerung an, mit ja stimmen zu wollen. Aber viele Menschen sind auch skeptisch angesichts des Fehlens von Alternativen. Erreicht die Wahlbeteiligung das Quorum von mindestens 50% der Wahlberechtigten nicht, steht der Präsident nicht weniger bedröppelt dar. Und da sei erinnert, daß das Parlament den Präsidenten ebenfalls mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit absetzen kann.
Harte Realitäten in Lettland
In den letzten Wochen ist immer wieder von Staatsbankrott die Rede, dessen Möglichkeit mitunter in Frage gestellt wird. Dies geschieht deshalb, weil auch ein hochverschuldetes Land eine höhere Kreditwürdigkeit besitzt, als ein Individuum oder eine Firma, die sich als Faß ohne Boden darstellt. Und der Grund für dieses Paradoxon liegt in dem Umstand, daß eine insolvent Firma nach dem Verkauf ihrer Sachwerte zugunsten der Gläubiger einfach verschwindet. Eine Privatperson stirbt irgendwann. Territorium und Einwohner eines zahlungsunfähigen Staatens verschwinden mit der Pleite jedoch nicht.
Wo andere Regierungen im Westen Konjunkturprogramme auflegen, letztlich also Geld drucken, ja sogar Steuern senken (wollen) und die Menschen zum Konsum aufrufen, geschieht in Lettland das Gegenteil.
Wenn im Westen gewitzelt wird, der Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus bestehe darin, daß in diesem die Unternehmen erst verstaatlicht und dann ruiniert würden, es im anderen System umgekehrt sei, so ist das lettische Dilemma, daß die Geldwertstabilität ruiniert wurde, bevor die Krise begann, während im Euroraum die Krise mit der (möglichen?) Ruinierung des Geldwertes zu bekämpfen versucht wird.
Gewiß, was die Politik im Euroraum exakt für Folgen haben wird, wagt wohl kaum jemand zu prognostizieren. Tendenziell muß sich jedoch der Druck auf die Inflation erhöhen. Lettland hat diese Option nicht.
Jüngst diskutierten ehemalige Regierungschefs Lettlands über die Lage der Nation im Fernsehen. Während Valdis Birkavs und Māris Gailis, die beiden Regierungschefs während der ersten Saeima nach der wiedererlangten Unabhängigkeit analysierten und Empfehlungen abgaben, gestand Aigars Kalvītis Fehler ein. Andirs Šķēle bekundete sein Verständnis, daß vor zwei drei Jahren den Gehaltsforderungen der Gewerkschaften für den öffentlichen Dienst von Seiten der Regierung nicht wiederstanden wurde. Freilich, auch westeuropäische Staaten haben sich in Jahren der sprudelnden Steuereinnahmen nicht vernünftiger Verhalten.
Andererseits behaupteten Indulis Emsis und Andris Šķēle ebenfalls, Lettland trage an der Krise keine Schuld. Diese sei durch eine falsche Politik in den USA ausgelöst worden. Emsis ist kein Wirtschaftsexperte. Doch zugunsten von Šķēle ist man zu vermuten geneigt, daß er diese Behauptung nicht wirklich selbst glaubt.
Tragisch ist, daß die Einwohner Lettlands nicht erst heute die aktuelle Politik für ihre Situation verantwortlich machen und nur wenige verstanden haben, daß die Wurzel des Übels in dem halben Jahrhundert sozialistischer Diktatur liegt. Und dies gefährdet potentiell die demokratische Regierungsform im Lande.
Finanzmarkt und Realwirtschaft
Während es in den USA eine Produktion gibt, hat der Autor dieser Zeilen in seinem ersten lettischen Zeitungsartikel vor Jahren bereits darauf hingewiesen, daß die vielen Neuwagen und Mobiltelefone in Lettland nicht mit unbehandeltem Holz und Damenunterwäsche dauerhaft finanziert werden können. Inzwischen beschränkt sich die Wirtschaftsleistung Lettland weitgehend auf das unbehandelte Holz, denn was es an Textilindustrie vor zehn Jahren noch gab, ist angesichts der Lohnkostenentwicklung und sicher auch einer falschen Produktpolitik weitgehend verschwunden.
In den USA haben die Menschen auf Pump gelebt und eine gute Weile darauf spekulieren können, daß der Wert ihrer mit Krediten erworbenen Häuser im Laufe der Zeit steigt, und dann irgendwann die Liegenschaft mit Gewinn verkauft und nach dem Auszug der Kinder eine kleinere Unterkunft erworben werden kann. Das war in Lettland nicht so. Selbstverständlich wurde mit ganzen Gebäuden und Eigentumswohnungen im historischen Jugendstilviertel von Riga spekuliert. Das trifft aber nicht zu auf die heruntergekommenen Holzhäuser in der Moskauer Vorstadt oder die Plattenbauten von Ķengarags oder Iļģuciems, die überwiegend in den 70er Jahren für eine Lebensdauer von 30 Jahren errichtet worden waren, ganz zu schweigen von Immobilien ähnlicher Qualität in den Klein- und Kleinststädten.
Selbstverständlich haben auch hier die Preise in den letzten zehn Jahren angezogen. Und genau hierin liegt im Unterschied zu den USA die Ursache der Krise in Lettland. Mit Hilfe eines Kredites eine Wohnung zu kaufen, war in den nach Aigars Kalvītis „fetten Jahren“ billiger, als eine Wohnung zu mieten. Die monatlichen Zinsen waren geringer als der Betrag, den Vermieter verlangt haben. Die in Lettland Kommunalgebühren genannten Betriebskosten müssen auch bei privatisierten Wohnungen an das die Mehrfamilienhäuser bewirtschaftende, sogenannte Kooperativ gezahlt werden.
Die Banken in Lettland haben auch nicht wie in den USA Kredite an Personen vergeben, deren Kreditwürdigkeit von vornherein in Zweifel zu ziehen war, sondern nur an solche, die wenigstens für örtliche Verhältnisse ordentlich verdienen haben.
In Lettland gab es somit sehr wohl jene, bei denen die „fetten Jahren“ nicht ankamen. Viele, die vor der Arbeitslosigkeit auf dem Lande nach Riga geflohen waren, konnten sich hier gerade einen Schlafplatz leisten. Konkret heißt dies, daß in einer Wohnung mit mehreren Zimmern in jedem davon gleich mehrere Personen wohnen.
Woher kommt dann die Krise in Lettland?
Gewiß, in Lettland wurden Kredite auch an Interessenten vergeben, die in einem westeuropäischen Land ohne Zweifel von der Bank eine Absage erhalten hätten; ebenso waren entsprechende Sicherheiten nicht vorhanden, die im Falle einer Wohnung im Plattenbau auch das erworbene Objekt selbst nicht bot. Der einmalige Kauf machte für den Einzelnen noch Sinn, nicht jedoch eine ggf. erforderliche Zwangsversteigerung.
Kredite wurden aber nicht nur gewährt und in Anspruch genommen, um mit Immobilien in die eigene und die Zukunft der Kinder zu investieren. Vielmehr gab es umfangreiche Leasingangebote, die gerne für moderne und teilweise auch luxuriöse Autos verwendet wurden. Selbst Schweizer Besucher fühlten sich beim Besuch Rigas zu Kommentaren hingerissen, daß auf so engem Raum sie nicht einmal daheim solche Fahrzeuge sehen würden.
Das alles war natürlich nur möglich, weil salopp formuliert, die Banken in den Markt wollten und teilweise aggressiv entsprechende Angebote unterbreitet haben.
Und dieser Trend zum Konsum auf Pump zog sich hin bis zu Kleinstkrediten, also letztlich Ratenkauf – wofür im Einzelhandel oft auch mit dem verzicht auf eine Anzahlung geworben wurde.
„Fette Jahre“ mit verdächtigen Kennziffern
Damit allein ist die Krise jedoch nicht zu verstehen. Dem Kauf auf Kredit steht auch ein Verkäufer gegenüber, welcher über die gesamte Kaufsumme sofort verfügt. Und diese Gelder gingen ebenfalls vorwiegend in den Konsum und nicht in Investitionen.
Es nimmt also kein Wunder, wenn der Anteil des Einzelhandels an den hohen Wachstumsraten der vergangenen Jahre verdächtig hoch, das Außenhandelsdefizit größer war als in Südostasien vor der Krise der 90er Jahre. Und es war auch nicht überraschend, daß 2007 und 2008 die Inflation in Lettland, aber auch den baltischen Nachbarstaaten, ungekannte Ausmaße erreichte und zweiteilig beinahe bei 20% lag.
Bei den Letten hingegen sind volkswirtschaftliche Kenntnisse nicht verbreitet. Sie verwechselten den hohen Nennwert ihrer nationalen Währung, 1 Lat ist bereits 1,50 Euro, mit einem hohen Wert ihrer Währung an und für sich.
Aber dies waren nur die hausgemachten Probleme.
Mit dem Beitritt zur EU öffneten Großbritannien und Irland ihre Arbeitsmärkte für die neuen Mitgliedsländer sofort. Eigentlich eine Geste, die im Gegensatz zum Protektionismus anderer Staaten im Rahmen der Globalisierung als Schritt einer liberalen Politik anzusehen ist.
In der Folge verließen viele Menschen aus dem Baltikum und Polen ihre Heimat, um für mehr Geld teilweise auch minderwertigere Arbeit zu verrichten. Dies aber war nicht nur ein persönliches Schicksal, sondern zog Arbeitskräfte ab aus einem heimischen Markt, in dem ebenfalls gerade die Bauwirtschaft boomte. Hier mangelte es nun an Arbeitern, weshalb die Löhne in Lettland unverhältnismäßig stark und schnell stiegen. Es kann kaum mit der Produktivität erklärt werden, wenn Einkommen plötzlich jährlich um ein Drittel steigen.
Die Diskussion über Gastarbeiter aus Weißrußland oder Moldavien wurde zwar geführt, aber nicht entschieden. Und so trug die Immobilienblase noch zu den Auswüchsen des Lohnsektors bei. Das wiederum ähnelt Island.
Gewöhnlicher Krisenbeginn und dramatische Folgen und Stilblüten
Der Kollaps in Lettland wurde schließlich durch ein Ereignis ausgelöst, mit dem sich zahlreiche andere Regierungen in Europa während der letzten Monate ebenfalls konfrontiert gesehen hatten. Der einzigen tatsächliche lettischen Bank, die Parex Banka, drohte das Ende. Dies wurde noch dadurch verschärft, daß die Letten den Zusammenbruch der Banka Baltija 1995 noch in guter Erinnerung haben. Die Menschen stürmten, anders als in Deutschland und ähnlich wie bei der schottischen Northern Rock, die Schalter und zogen ihre Einlagen ab, was den drohenden Bankrott noch beschleunigte.
Die Parex Bank war insofern systemrelevant, wie die jüngste Wortschöpfung heißt, weil der Großteil der staatlichen Institutionen ihre Bankgeschäfte über dieses Institut abwickeln.
Der Staat wäre nun ohne die Hilfe Europas und des IWF zahlungsunfähig. Die ersten Gegenmaßnahmen wurden getroffen, die Mehrwertsteuer zum 1. Januar um drei Prozent erhöht und die Einkommen für alle Staatsbediensteten gekürzt. Viele Mitarbeiter wurden sogar entlassen. Das gilt selbstverständlich auch für die Privatwirtschaft.
Da viele Menschen ihre Arbeit verloren oder drastische Einkommensausfālle von in manchen Fällen bis zu 40% zu verkraften haben, droht ebenfalls die Zahlungsunfähigkeit von Privathaushalten, weil die Menschen ihre Kreditverbindlichkeiten nicht mehr bedienen können.
Doch damit nicht genug: Nicht erst seit Wochen oder Monaten, sondern eigentlich schon seit Jahren wird immer wieder über eine Abwertung der Landeswährung Lats spekuliert. Erst im vergangenen Herbst wurde wegen der Verbreitung von Gerüchten ein Hochschullehrer zwei Tage von der Polizei festgehalten und ein Sänger immerhin vernommen. Dies ist ein Zeichen für die Nervosität der Behörden und den Notenbank. Die Skeptiker, die sich vor der Einführung der Gemeinschaftswährung Euro in Deutschland zu Wort gemeldet hatten, sind damals wie jetzt wegen ihrer Zweifel bestenfalls publizistisch angegriffen worden.
Abwertung als Rezept?
Selbstverständlich ist die Abwertung neben einem (noch) drastischeren Sparkurs eine mögliche Strategie zur Verhinderung der Zahlungsunfähigkeit. Aber weil die Krise in Lettland andere Ursachen hat, hat sie auch andere Folgen.
Selbstverständlich würde eine Abwertung Exporte verbilligen und Importe verteuern. Während letzteres kein Nachteil für die heimische Wirtschaft sein sollte, es schränkte den ungestümen Konsum von Konsumgütern ein, so liefe ersteres in die Leere – was exportiert Lettland?
Eine Abwertung der Währung würde die Schwierigkeiten bei der Bedienung von Krediten noch einmal deutlich verschärfen. Denn weil die Landeswährung trotz ihres hohen Nennwertes (1 LVL=1,50 Euro) eben keine Hartwährung ist, nach der sich andere Volkswirtschaften die Finger schlecken, haben die meisten ihre Kredite in Fremdwährungen aufgenommen, vorwiegend in Euro, aber auch in Schweizer Franken und Yen. Und da die Kreditnehmer vorwiegend junge Menschen sind, träfe eine Abwertung gerade den produktiven Teil der Gesellschaft am heftigsten. Eine soziale Katastrophe könnte folgen. Und das scheut das offizielle Lettland wie der Teufel das Weihwasser.
Wegen der seit dem EU-Beitritt festen Wechselkursbindung an den Euro wäre die Abwertung nicht allein auf nationaler Ebene entscheidbar, sondern nur in Zusammenarbeit mit der Europäischen Zentralbank. Innerhalb der Europäischen Union gibt es ebenfalls einer Abwertung entgegenstehende Interessen.
Die international engagierten Banken haben schon genug Summen abschreiben müssen. Da in Lettland vorwiegend große Häuser aus Skandinavien aktiv sind wie SEB und Swedbank, würde gerade Schweden sehr viel verlieren.
Der vor allem im Nahrungsmittelbereich umfangreiche innerbaltische Handel würde durch eine Abwertung der nationalen Währung in nur einer Republik das Gleichgewicht aus den Fugen bringen.
Was also tun?
Es besteht kein Zweifel, daß die Regierung Lettlands, werde sie nun von Valdis Dombrovskis geführt oder von jemand anderem, vor der Wahl zwischen Teufel und Beelzebub steht.
Der scheidende Ministerpräsident Ivars Godmanis hat bereits in einem Zeitungsinterview sein Unverständnis über den Sturz seiner Regierung gegrummelt: Es wäre seiner Ansicht nach vernünftiger gewesen, unpopuläre Entscheidungen noch seinem Kabinett aufzubrummen, um nach der Europa- und Kommunalwahl eine neue Regierung zu bilden. Dahingegen behaupten Beobachter, daß die Königsmörder Volkspartei und Grüne und Bauern an der Bereitschaft der Partner zweifelten, unpopuläre Entscheidungen zu treffen, und aus diesem Grunde das Bündnis erweitern wollten
Jetzt hat Dombrovskis die Erste Partei / Lettlands Weg aus dem Boot geworfen, weil erstens auch ohne sie die Regierungsfraktion auf 64 Mandate kommen und zweitens diese Partei ultimativ am Verkehrsministerium festhalten wollte. Damit hat er nun aber die Königsmörder verärgert, die ihrerseits an der Bündnistreue bei der Neuen Zeit des designierten Regierungschefs ebenso zweifeln wie an der Bürgerlichen Union.
Und in der Tat, deren Fraktionsvorsitzende Anna Seile hat bereits angekündigt, nicht ohne wenn und aber für jeden schmerzhafte Vorschlag zu stimmen. Dem schlossen sich die Abgeordneten Janīna Kursīte-Pakule von der Bürgerlichen Union und Inguna Rībene von der neuen Zeit an, die ihr Gewissen und die Bedeutung der kulturellen Bildung in Lettland vorschoben.
Zweifel bestehen aber nicht nur bei den bislang oppositionellen Kräften. Auch die Bildungsministerin von den Grünen und Bauern, Tatjana Koķe, stellte angesichts des Sparzwangs ihre Bereitschaft in Frage, für das Amt erneut zur Verfügung zu stehen.
Situation bleibt undurchsichtig
Ob Godmanis’ Bereitschaft, alle Unbill auf sich zu nehmen einer staatsmännischen Einstellung oder einem anderen Kalkül geschuldet ist, mag zunächst dahingestellt bleiben. Beinahe erwecken all diese Konflikte um und während der Regierungsbildung den Eindruck, als hätten die Politiker und Parteien vergessen, daß Ende des Monats der Präsident mit einer möglichen Parlamentsauflösung droht.
Daß die Forderungen des Ultimatums in diesem Zeitraum zu erfüllen sind, ist so gut wie ausgeschlossen, zumal die Parteien jetzt genug Zeit mit der Regierungsbildung verbracht haben, welche überdies noch nicht einmal abgeschlossen ist.
Fraglich ist aber auch die Ernsthaftigkeit der Drohung, den Präsident Zatlers spielt ggf. mit seinem Amt. Lehnt das Volk im obligatorischen Referendum das Ansinnen des Staatsoberhauptes ab, so muß er selbst abtreten. Zwar geben zwei Drittel der Bevölkerung an, mit ja stimmen zu wollen. Aber viele Menschen sind auch skeptisch angesichts des Fehlens von Alternativen. Erreicht die Wahlbeteiligung das Quorum von mindestens 50% der Wahlberechtigten nicht, steht der Präsident nicht weniger bedröppelt dar. Und da sei erinnert, daß das Parlament den Präsidenten ebenfalls mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit absetzen kann.
Harte Realitäten in Lettland
In den letzten Wochen ist immer wieder von Staatsbankrott die Rede, dessen Möglichkeit mitunter in Frage gestellt wird. Dies geschieht deshalb, weil auch ein hochverschuldetes Land eine höhere Kreditwürdigkeit besitzt, als ein Individuum oder eine Firma, die sich als Faß ohne Boden darstellt. Und der Grund für dieses Paradoxon liegt in dem Umstand, daß eine insolvent Firma nach dem Verkauf ihrer Sachwerte zugunsten der Gläubiger einfach verschwindet. Eine Privatperson stirbt irgendwann. Territorium und Einwohner eines zahlungsunfähigen Staatens verschwinden mit der Pleite jedoch nicht.
Wo andere Regierungen im Westen Konjunkturprogramme auflegen, letztlich also Geld drucken, ja sogar Steuern senken (wollen) und die Menschen zum Konsum aufrufen, geschieht in Lettland das Gegenteil.
Wenn im Westen gewitzelt wird, der Unterschied zwischen Kapitalismus und Sozialismus bestehe darin, daß in diesem die Unternehmen erst verstaatlicht und dann ruiniert würden, es im anderen System umgekehrt sei, so ist das lettische Dilemma, daß die Geldwertstabilität ruiniert wurde, bevor die Krise begann, während im Euroraum die Krise mit der (möglichen?) Ruinierung des Geldwertes zu bekämpfen versucht wird.
Gewiß, was die Politik im Euroraum exakt für Folgen haben wird, wagt wohl kaum jemand zu prognostizieren. Tendenziell muß sich jedoch der Druck auf die Inflation erhöhen. Lettland hat diese Option nicht.
Jüngst diskutierten ehemalige Regierungschefs Lettlands über die Lage der Nation im Fernsehen. Während Valdis Birkavs und Māris Gailis, die beiden Regierungschefs während der ersten Saeima nach der wiedererlangten Unabhängigkeit analysierten und Empfehlungen abgaben, gestand Aigars Kalvītis Fehler ein. Andirs Šķēle bekundete sein Verständnis, daß vor zwei drei Jahren den Gehaltsforderungen der Gewerkschaften für den öffentlichen Dienst von Seiten der Regierung nicht wiederstanden wurde. Freilich, auch westeuropäische Staaten haben sich in Jahren der sprudelnden Steuereinnahmen nicht vernünftiger Verhalten.
Andererseits behaupteten Indulis Emsis und Andris Šķēle ebenfalls, Lettland trage an der Krise keine Schuld. Diese sei durch eine falsche Politik in den USA ausgelöst worden. Emsis ist kein Wirtschaftsexperte. Doch zugunsten von Šķēle ist man zu vermuten geneigt, daß er diese Behauptung nicht wirklich selbst glaubt.
Tragisch ist, daß die Einwohner Lettlands nicht erst heute die aktuelle Politik für ihre Situation verantwortlich machen und nur wenige verstanden haben, daß die Wurzel des Übels in dem halben Jahrhundert sozialistischer Diktatur liegt. Und dies gefährdet potentiell die demokratische Regierungsform im Lande.
3 Kommentare:
Super Artikel, beleuchtet sehr genau die wirtschaftliche Probleme Lettlands, aber auch der anderen baltischen Laender.
Eine Abwertung des Lats (aber auch der Krone) ist meiner Meinung nach unvermeindlich. Bevor man an Export denkt, sollte die Wirtschaft des Landes Binnenkonsum bedienen koennen und nicht nur sich auf Importe verlassen. Vielleicht kann man keine Ananasse in Lettland zuechten, aber zumindest Schweinefleisch sollte nicht aus Argentinien kommen.
Warum sozialistische Diktatur fuer das aktuelle Malheur verantwortlich sein soll, ist mir nicht ganz klar.
Lieber Kloty,
zu Punkt eins: die sozialistische Diktatur ist insofern verantwortlich, als sie nicht ordentlich investiert hat. Die Sowjetunion ist weniger aus politischen oder moralischen Gründen untergegangen als gemeinsam mit dem gesamten COMECON schlichtweg Bankrott gewesen. Die hinterlassene, arbeitsintensive Wirtschaft war weder von den Kosten her noch von der gefertigten Qualität konkurrenzfähig.
Punkt zwei: Dank fixer Wechselkurse gehören zahlreiche andere Währungen in der EU mehr oder weniger bereits zur Eurozone.Wie im Beitrag erwähnt, wāre eine Abwertung der baltischen Wāhrungen ein GAU bei weitem nicht nur im Inland.
Aber dieser Blog und noch weniger Kommenatre zu konkreten Posts sind der rechte Ort fūr VWL-Vorlesungsmitschriften.
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