25. März 2009

„Dankbare Zeit für neue Parteien“

Die Überstrift steht in Anführungszeichen, sie stammt nicht von mir. Ilze Kuzmina hat so, natürlich in lettischer Sprache, einen Artikel in der Neatkarīgā (Die Unabhängige) überschrieben.

Lettland ist unter den postsozialistischen Staaten, in denen Regierungen viel häufiger wechseln als in Wetsuropa, der Spitzenreiter. Das gerade angelobte Kabinett Dombrovskis ist das 15. seit der Unabhängigkeit 1991.[1] Außerdem wurden in keinem Land so häufig und so viele neue Parteien gegründet. Mit Ausnahme der letzten Wahlen 2006 war die Siegering immer eine erst kurz zuvor entstandene politische Kraft.[2]

Eine dankbare Zeit, neue Parteien zu gründen, besteht derzeit tatsächlich, da sich die politische Klasse seit 2007, als die Menschen erstmals wieder auf den Straßen demonstrierten, derart diskreditiert hat, daß das Volk nach neuen Gesichtern verlangt – mehr als früher, als es die Erfolge neuer Parteien in der Vergangenheit erklärt.

Neue Parteien sind in jüngster Zeit bereits entstanden. Aigars Štokenbergs und Artis Pabriks, ehemalige Mitglieder und Minister der Volkspartei, haben die „Gesellschaft für eine andere Politik“ gegründet – über den geistreichen Namen wurde bereits geschmunzelt. Sandra Kalniete von der Neuen Zaeit gründete mit dem bei der Kandidatur um den Parteivorsitz von Für Vaterland und Freiheit unterlegenen Ģirts Valdis Kristovskis, der früher einmal bei Lettlands Weg war, die „Bürgerliche Union“. Selbstverständlich handelt es sich damit in beiden Fällen um Parteien, die wie schon früher aus der Mitte der politischen Elite heraus entstanden wurden.

Jetzt kündigt sich erstmals seit langer Zeit die Gründung einer Partei aus der Mitte des Volkes an. Die Gründer sind im wesentlich junge, bislang in der Öffentlichkeit unbekannte Personen wie der Präsident des Verbandes der Fischproduzenten, Didzis Šmits, der in Frankreich Diplomatie studiert hat und als Presseskretär der Neuen Zeit und im Außenministerium tätig war. Er selbst sagt, daß die potentiellen Mitglieder alle Professionelle seien, wenn sie auch bislang in „Privātā Dzīve“[3] nicht in Erscheinung getreten seien. Dazu zählt etwa Kristīne Drēviņa,[4] die derzeit am Europäischen Gerichtshof wirkt. Ebenefalls von der Neuen Zeit geprägt ist die ehemalige Büroleiterin von Kalniete, Dace Dzedone. Aleksandrs Tralmaks war bei der Tagszeitung Diena früher für die strategische Planung zuständig. Das wirtschaftspolitische Gesicht soll der neuen Partei der Dozent der Stockholm School of Economics Riga, Vjatscheslaw Dombrovski, geben. Er begründete sein Engagement damit, in diesen kritischen Zeiten könne er nicht als Zuschauer am Rande stehen.

Die Idee, so Šmits, sei bei Diskussionen unter Freunden in der Küche entstanden, weil bei allfälligen, vorgezogenen Neuwahlen keine Partei existiere, für die man guten Gewissens stimmen könne. Infolge dessen gehörten zu den potentiellen Mitgliedern vorwiegend Freunde von Šmits aus der Schul- und Studienzeit, wie etwa die Ökonomin der Nationalbank, Agnese Bičevska, Ehefrau eines Staatsekretärs im Finanzministerium, der selbt der Volkspartei angehört. Der PR-Experte Vladimir Novodvorski wiederum arbeitet für das Uneternehmen Ventsbunkers, das wiederum in Verbidung steht zu den Unternehmern Olafs Berķis und Oļegs Stepanovs, deren Bekanntschaft jüngst als Hinderungsgrund genannt wurde, daß Ģirts Kristovskis neuer Verkehrsminister werden könnte. Einstweilen aber habe die Partei aber nicht viel mehr als die zur Gründung erforderlichen 200 Unterstützer, sagt Šmits.

Bereits vor einer Woche hatte Šmits mit Bekannten den Verein „Tautas Laiks“ (Die Zeit des Volkes) gegründet. Was zunächst als Absetzung von einer als Zeit der Oligarchen und abgehobenen Politik empfundenen Periode vernünftig zu klingen scheint, könnte allerdings auch als Satire mißverstanden werden. Immerhin hatte Andris Šķēle 1995 die Volkspartei gegründet und Einārs Repše 2002 die Neue Zeit. Diese wird im Englischen als New Era übersetzt und von dort aus im Deutschen oft auch als Neue Ära.

Über die ideologische Ortung hält Šmits sich bedeckt, weil sich in Lettland noch keine Schichten herausgebildet hätten. Die Ausrichtung sei aber gewiß marktwirtschaftlich, wenn auch angesichts der Krise staatliches Eingreifen befürwortet werde. Die Partei wird darum voraussichtlich eine sozialliberale sein.

Da eine Parteigründung in Lettland ohne Gerüchteküche schier ausgeschlossen ist, fühlte sich Šmits aufgerufen, eine Unterstützung von Šķēle zu dementierten. Er habe aber zahlreiche andere Unternehmer angesprochen, denn ohne Geld könne man keine Partei gründen.

Berechtigter seinen Spekulationen über Expräsident Guntis Ulmanis. Šmits gibt zu bedenken, daß das Volk zwar nach neuen Gesichtern verlange, jedoch, tauchten diese auf, sogleich fragten, wer denn das sei, diese Leute kenne man nicht. Und so habe Ulmanis seine Teilnahme am Gründungskongress angekündigt, den Eintritt in die Partei aber nicht versprochen. Šmits würde ein solcher Schritt zwar freuen, doch die Partei sei nicht auf der Suche nach Wahllokomotiven.

An den Wahlen zum Europaparlament will die Partei nicht antreten, jedoch an einigen Orten Kandidaten für die am selben Tag stattfindende Kommunalwahl aufstellen.
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[1] http://www.rulers.org/ bietet eine andere Zählung an. Während der Autor dieser Zeilen jede Veränderung der Koalitionszusammensetzung wie auch der Neubildung einer Regierung mit den gleichen Partnern als eine neue Regierung betrachtet, ist die zählweise umstritten. Die genannte Seite zählt das Kabinett von Aigars Kalvītis nach dem Austritt der neuen Zeit 2006 nicht separat, die Präsidentin mußte keinen neuen Minsterpräsidenten benennen. Auch Andris Šķēles Rücktritt und neuerliche Ernennung 1997 wird nur als eine Regierung gewertet.
[2] Der Autor dieser Zeilen hat über das Parteiensystem promoviert und sieht sich bei Nachfragen zu länger zurückliegenden Ereignissen mitunter gezwungen, die Antwort in der eigenen Dissertation nachzuschlagen.
[3] „Das private Leben“ ist wohl eines der bekanntesten Boulevardmagazine in Lettland.
[4] Eine Anmerkung zum Journalismus in Lettland am Rande: in einer anderen Zeitung hieß diese Dame plötzlich Grīviņa.

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