21. November 2008

Verfassung in schlechter Verfassung – Stellungskämpfe statt Politik

Ein Präsident wirbt um Sympathie
Valdis Zatlers wurde vor etwa anderthalb Jahren als Nachfolger der populären Vaira Vīķe-Freiberga und entgegen Volkes Willen ins Amt gewählt. Der Artz sei, so hieß es, bei einem Spitzentreffen der Koalitionspolitiker im Zoo ausgewählt worden – nicht aus dem Zoo freilich. Daß er nach der engagierten Vorgängering von den Regierungsparteien bewußt als bequemer Kandidat gedacht war, steht weitgehend außer Frgae. Zatler wurde weiterhin auch deshalb von der Öffentlichkeit belächelt, weil er bei Auftritten wie auch in Interviews mit inhaltslosen Allgemeinplätzen und Stlblüten glänzte wie: “Wer bin ich?”

Im September 2008 dann bestätigte Zatlers plötzlich nicht wie von der Koalition gewünscht, Vaira Paegle von der Volkspartei als neue Botschafterin bei der UNO. Die Betroffene ärgerte sich, das Land war verblüfft, aber eigentlich war dieser Schritt ohne große Bedeutung.

Das etwas im Lande nicht in Ordnung ist, hat Zatlers bereits vor einem Jahr verstanden. Nachdem die Regierung den Chef der Anti-Korruptionsbehörde absetzen wollte, kam es zu einer Manifestation auf dem Domplatz, die wegen des schlechten Wetters als Regenschirmrevolution in die jüngere Geschichte eingegangen ist. Das Volks skandierte: Parlamentsauflösung! Zatlers besucht die Veranstaltung überraschend und sagte: Liebe Mitbürger, erst einmal braucht ihr eine Losung. War der Mann taub?

Nein. Bei seiner Ansprache zum 90. Geburtstag des Republik Lettland mahnte Zatlers die Politiker, die Demokratie könnte durch eine Verfassungsänderung gefördert werden, welche dem Volk die Möglichkeit der Parlamentsauflösung zuerkennt. Die bisherigen Reaktionen demonstrierten Hochnäsigkeit gegenüber dem ausgesprochenen Willen des Volkes. Seit einiger Zeit hat Zatlers neue Berater und Redenschreiber.

Einstweilen kann nach der alten Verfassung von 1922 das Parlament nur aufgelöst werden, wenn der Präsident dies anregt und das Volk in einem Referendum zustimmt. Ein Referendum über das Recht des Volkes zur selbstständigen Initiative scheiterte im Sommer am verfehlten Quorum der Beteiligung – mindestens die Hälfte aller Wahlberechtigten.

Verfassung ändern oder nicht?
Im Unterausschuß des Rechtsausschusses, der mit der entsprechenden Neuregelung befaßt ist, kommt der Gesetzentwurf nicht voran. Regierungsparteien und Opposition straiten darüber, welches Quorum erforderlich sein soll, damit ein Referendum zur Parlamentsauflösung Geltung erlangt. Die Koalition pocht auf die Hälfte der Wahlberechtigten, wie es auch derzeit für Verfassungsänderungen erforderlich ist. Die Opposition kontert, dieses Quorum zu erreichen sei so schwierig, daß eine solche Volksinitative eine bloß formale Möglichkeit wäre. Sie verlangt, daß die Hälfte der Wahlbeteiligung der letzten Parlamentswahl ausreichen solle. Dies gilt auch derzeit bei Referenden über einfache Gesetze. Gestritten wird ebenso über die Änderung der Rechte des Präsidenten.

Die Abgeordneten der Regierungsparteien bremsen nach Auskunft der Ausschußvorsitzenden, Solvita Āboltiņa, von der oppositionellen Neuen Zeit die Arbeit des Ausschusses durch Abewesenheit, um die Beschlußfähigkeit zu unterlaufen. Selbst wenn die Angeordneten erschienen, käme keine Diskussion zustande, weil einige Fraktionen ihren Standpunkt noch nicht intern diskutiert hätten und die Volkspartei, die sich bereits eine Meinung gebildet habe, unter diesen Umständen ihre Position zu vertreten nicht bereit ist.

Es besteht kein Zweifel, daß die Regierungsparteien kein großes Interesse an einer schnellen Lösung dieser Frage haben. Und trotzdem prognostiziert die Volkspartei des abgetretenen Ministerpräsidenten Aigars Kalvītis nun, schon nächstes Jahr könne eine Verfassungsänderung verabschiedet werden. Das stünde Spekulationen über neue Bündnisse bis zur kommenden Wahl 2010 entgegen.

Der frühere Justizminister und Vertreter der konservativen Für Vaterland und Freheit, Dzintars Rasnačs, warnt vor übereilten Entscheidungen; in einer so wichtigen Frage müßten einheimische und internationale Verfassungsexperten gehört werden. Aboltiņa erwidert, nach einem Jahr Diskussion könne nicht von Eile gesprochen werden.

Der Vertreter der Ersten Partei / Lettlands Weg, Jānis Šmits, meinte, die 600.000 Bürger, die im Sommer Jahr für die Verfassungsänderung gestimmt hätten, seien noch nicht das Volk. Wie er das im Detail meint, ließ er offen. Immerhin ist das ein Viertel der lettischen Wohnbevölkerung vom Kleinkind bis zum Greis und eingerechnet der Einwohner, die nicht über die lettische Staatsbürgerschaft verfügen.

Der Präsident hat nach der Verfassung auch selbst das Recht zur Gesetzesinitiative, hätte also längst eine Verfassungsänderung einbringen können. Dies wäre die logische Reaktion auf seinen Auftritt bei der Manifestation 2007 gewesen. Davon hat Zatlers bislang keinen Gebrauch gemacht. Bisher also beschränkt sich seine Emazipation mehr auf Worte als auf Taten.

Unwägbarkeiten zwischen geltendem und zu schaffendem Recht
Āboltiņa meint, der Präsident dürfe nicht vergessen, daß Lettland eine parlamentarische und keine präsidentielle Republik sei, ihm also zunächst mehr representative Aufgaben zukämen, als der Eingriff in die alltägliche Politik.

Das angejährte Gesetzeswerk macht aus dem Regierungssystem tatsächlich einen Zwitter. Der Präsident hat entschieden mehr Rechte als in anderen repräsentativen Demokratien, wird aber gleichzeitig vom Parlament und zwar mit nur absoluter Mehrheit gewählt. Für seine Absetzung hingegen wären zwei Drittel der Abgeordneten erforderlich.

Abgesehen davon, daß Zatlers in einem dann fälligen Referendum über die von ihm angeregte Parlamentsauflösung auch unterliegen und damit sein Amt verlieren könnte, könnte das Parlament im Zeitraum zwischen der Anregung und der tatsächlichen Auflösung den Präsidenten absetzen. Die Verfassung beschränkt nämlich die Handlungsmöglichkeiten eines abgesetzen Parlamentes in diesem Punkt nicht kosequent. Sitzungen eines aufgelösten Parlamentes werden vom Präsidenten anberaumt, der auch die Tagesordnung bestimmt. Zahlreiche Politiker wollen darum auch die Rechte des Präsidenten konkretisieren.

Während der Erfolg eines Referendums nach der Manifestation 2007 zu vermuten gewesen wäre, ist die Frage des Impeachments verbunden mit der Aussicht auch der oppositionellen Parteien bei allfälligen Parlamentwahlen. Alles sieht also danach aus, als würden diese Fragen noch zwei weitere Jahre bis zum Ende der laufenden Legislaturperiode vor sich hindümpeln.

Dabei ist es eine verfassungsrechtlich interessante Frage, Quoren für die Installation der Verfassungsorgane Parlament und Präsident mit denen ihrer Entlassung zu vergleichen. Ein Parlament ist völlig unabhängig von der Wahlbeteiligung gewählt. Welches Quorum also schiene logisch und vernünftig, damit Wähler und Wahlenthalter das von ihnen selbst gewählte oder hingenommene Parlament aufzulösen? Es macht sicher keinen Sinn, wenn letztlich ein Drittel der Wahlbevölkerung das Parlament aktiv wählt und anschließend die anderen zwei Drittel selbiges in die Wüste schicken können.

Überhaupt erinnert die Parlamentsauflösung durch das Wahlvolk an das imperative Mandat. Das ist ein Rätemodell und heißt auf Russisch Sowjet.

Die Regenschirmrevolution machte auf Kalvītis zwar so viel Eindruck, daß er zurücktrat. Sonst aber änderte sich nichts: der Leiter der Anto-Korruptionsbehörde wurde später doch abgesetzt, die Verfassung ist nicht geändert, das Parlament ist noch immer nicht aufgelöst und die gleichen Koalitionsparteien sind nach wie vor an der Macht.

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