Lettland steht unter dem Eindruck einer Referendumanie. Nicht daß die Bürger dieses Landes so häufig an die Urnen gerufen würden wie etwa in der Schweiz. Aber im Gegenteil zu Deutschland ist es in Lettland möglich, die Bürger über eine konkrete Frage abstimmen zu lassen.
Dabei ist Referendum nicht gleich Referendum. Die Abstimmungen unterscheiden sich darin, wer sie in welcher Form initiieren kann, über welche Fragen abgestimmt wird als auch bei der Mindestbeteiligung, die für eine Gültigkeit des Ergebnisses erforderlich ist. Referendumanie deshalb, weil allein innerhalb der letzten gut zwölf Monate drei der insgesamt sieben Referenden seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1991 stattgefunden haben. Und die drei Urnengänge haben eine Gemeinsamkeit: ihr Ergebnis bleibt unberücksichtigt, weil die vorgesehene Beteiligungsquote nicht erreicht wurde. Da bei den sieben Referenden auch die zwei wichtigen über die Unabhängigkeit selbst sowie den Beitritt zur Europäischen Union mitgezählt werden, sind innenpolitisch interessant vor allem jene, die aus der Mitte des Volkes angeregt wurden. Dabei handelt es sich juristisch nicht um die Initiative eines Referendum. Vielmehr ist diese Form der direkten Demokratie zunächst eine Gesetzesinitiative.
In Lettland kann die Bürgerschaft mit den Unterschriften von 10.000 Wahlberechtigten das Parlament zwingen, einen konkreten Gesetzentwurf zu debattieren. Die Eingabe darf auch den Verfassungstext betreffen. Die drei Referenden der letzten zwölf Monate unterscheiden sich jedoch in den eingangs Kriterien. Der Urnengang von 2007 wurde angeregt, indem die damalige Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga von ihrem verfassungsmäßigen Recht gebraucht machte, die Ausfertigung eines verabschiedeten Gesetzes auszusetzen, um der Bevölkerung die Gelegenheit zu geben, die erwähnten 10.000 Unterschriften zu sammeln. 2007 hatte die Präsidentin Vorbehalte gegen die Novelle des Gesetzes über die Nationale Sicherheit.
Der Zentralen Wahlkommission werden im Zusammenhang mit der geringen Wahlbeteiligung die Termine der Ausrichtung vorgeworfen. 2007 war es der 7. Juli, also 07.07.07, ein Datum, an welchem viele junge Paare heirateten, da es sich zudem, wie gesetzlich für Abstimmungen vorgeschrieben, um einen Samstag handelte, und daher mitsamt der Verwandtschaft auf einen Besuch des Wahllokals verzichteten. Damals jedoch hatte sich der Gegenstand des Urnenganges bereits erledigt, weil die Regierung im vorauseilendem Gehorsam das Gesetz schon wieder zurückgenommen hatte. Andererseits sind der Zentralen Wahlkommission aber auch die Hände gebunden. Ein Referendum muß in einer gesetzlich festgelegten Frist nach Einreichen der Unterschriften stattfinden. 2008 müssen sich daher die Initiatoren der Referenden selbst Populismus vorwerfen lassen, schließlich hatten sie die Entscheidung darüber, wann sie die Unterschriftenlisten einreichen. Angesichts der lettischen Besonderheit, daß die Bürger– auch bei Parlamentswahlen – in jedem beliebigen Wahllokal abstimmen dürfen, was durch einen Stempel im Paß gekennzeichnet wird, kontert die Zentrale Wahlkommission nicht zu Unrecht, daß sie keinen Einfluß darauf hat, für wie wichtig die Bevölkerung das konkrete Referendum hält.
Die Initiatoren müssen sich außerdem die Frage gefallen lassen, wie populistisch die Urnengänge ob ihres Gegenstandes waren. Mit dem einen wollte man den Gesetzgeber auf eine Mindestrentenhöhe festlegen. Das andere, wichtigere Referendum sollte inskünftig den Bürgern die Möglichkeit geben, ebenfalls per Referendum, das Parlament aufzulösen. Diese Idee wurde freilich im Zusammenhang mit dem Referendum von 2007 geboren, das kurz nach der Wahl des neuen Präsidenten folgte. Die Regierung unter Ministerpräsident Kalvītis hatte sich nicht nur in den Augen der Präsidentin, sondern auch nach Meinung der Bevölkerung als selbstherrlich herrschende Oligarchen-Clique diskreditiert. Gegen das Referendum über die Rentenfrage regte sich Widerstand auch unter Rentnern, die es für ungerecht hielten, daß die Höhe der Bezüge nun plötzlich nicht mehr abhängig davon sein sollten, ob jemand im Leben faul oder fleißig war. Dies, obwohl es außer Frage steht, daß die Renten in Lettland gering sind und für viele Rentner das alltägliche Leben deshalb äußerste Sparsamkeit verlangt.Für die Möglichkeit, das Parlament durch ein Referendum auflösen zu können, votierten eine überwältigende Mehrheit von mehr als 90% der Wähler, die den Weg an die Urnen gefunden hatten.
Dieses Ergebnis ist auf die erwähnte Unzufriedenheit zurückzuführen, aber auch auf die bisherige Regelung, nach welcher der Präsident die Auflösung des Parlaments gar nur anregen kann, darüber aber dann – und jetzt werden die lettischen Verfassungsfragen kompliziert – eben ein Referendum stattfinden muß. Dieses kostet entweder die Parlamentarier ihren Stuhl oder aber den Präsidenten selbst. Amtsinhaber Valdis Zatlers, welcher nun 2007 gegen den Willen der Bevölkerung von der unbeliebten Regierung Kalvītis installiert worden war, hatte sich aber nach den Demonstrationen im vergangenen Herbst nicht angeschickt, von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen. Den Vorwurf des Populismus müssen sich die Initiatoren dennoch gefallen lassen, denn trotz der hohen Zustimmung unter den abgegebenen Stimmen beteiligten sich auch an diesem Referendum nicht genügend Bürger. Angesichts der größeren Wichtigkeit einer Verfassungsänderung sieht das Gesetz aber auch höhere Hürden vor. Müssen für die Gültigigkeit einer Volksabstimmung üblicherweise wenigstens halb so viele Wahlberechtigte teilnehmen wie bei den vorhergegangenen Parlamentswahlen, so hätte in diesem Fall wenigstens die Hälfte der Wahlberechtigten insgesamt abstimmen müssen. In einer Demokratie, zumal in einem kleinen Staat wie Lettland, gibt es keine demokratietheoretischen Einwände gegen Referenden. Die verfassungsmäßig vorgesehenen Rechte aktiv zu nutzen, ist ebenfalls positiv zu bewerten. Dabei sollte die Gefahr abgewandt werden, via Volksabstimmungen den Versuch einer Umsetzung von idealistischen Zielen zu verwirklichen. Aus dem Umstand, daß die erwähnten Referenden nicht genügend Zuspruch unter den lettischen Bürgern gefunden haben, ließen sich zwei Schlüsse ziehen. Entweder ist dies ein Zeichen für eine ins Bodenlose gehende Politikverdrossenheit, oder aber die Menschen haben verstanden, daß mit Populismus nichts zu bewerkstelligen ist.
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