Sandra Kalniete war ehemals lettische Botschafterin in Frankreich, dann Aussenministerin, und kurzzeitig designierte erste EU-Kommissarin Lettlands - bis im Spätsommer 2004 ein in Lettland neu ins Amt gekommener Interims-Regierungschef eine andere Kandidatin bevorzugte. Unter den Letten in der ganzen Welt ist Kalniete bekannt - nicht unbedingt wegen ihrer politischen Tätigkeit (sie kam übrigens ins Amt der Aussenministerin, ohne einer Partei anzugehören), sondern wegen einem Erinnerungsbuch. In den 90er Jahren hat sie die Geschichte ihrer Familie zusammengetragen. "Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee" (in der deutschen Fassung kürzlich beim Herbig-Verlag erschienen), thematisiert die Geschichte der Familie Kalniete, vor allem der Gro�eltern und der Eltern der Autorin. Damit berührt die Autorin die lettische Seele - denn Tausende Letten haben Ähnliches erlebt.Wie schmerzvoll diese Aufarbeitung war, und welch große Wissenslücken wohl im europäischen Westen über die Schrecken des stalinistischen Terrors wohl noch bestehen, zeigen die Reaktionen auch von Vertretern der deutschen Medienlandschaft. Dort sieht man vor allem die Erinnerung an die Schrecken des Holocaust gefährdet - vielleicht auch zurecht. Dass man aber, vielleicht aus innenpolitischen Ängsten heraus (denn neue Nazis will natürlich niemand haben, auch wir Lettland-Freunde nicht!!), dann gleich die sehr ehrlich gemeinte Aufarbeitung der in Lettland selbst erlebten vielen anderen Schrecklichkeiten gleich mal mit denuziert und abqualifiziert, das wirkt zumindest hochmütig und unangemessen.
So meinte Prof. Dr. Wolffsohn kürzlich in einem Beitrag in der WELT, Kalniete wolle mit ihrem Buch "Lettland reinwaschen". Auch er schafft es, auf den hauptsächlichen Inhalt des Buches mit kaum einem Wort einzugehen. Wieder andere seiner Journalistenkollegen schreiben immer wieder den einen Satz, der Salomon Korn zugeschrieben wird, als er anläßlich der Buchpräsentation auf der Buchmesse Leipzig 2004 den Saal verliess: "eine Gleichsetzung von nazionalistischen und stalinistischen Verbrechen ist unerträglich". In Kalniete's Orgininaltext dagegen ist tatsächlich der Satz über die lettischen Opfer des Stalinismus zu finden: "Erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erhielten die Forscher einen Zugang zu den archivierten Dokumenten und Lebensgeschichten dieser Opfer. Diese belegen, daß beide totalitäre Regime - Nazismus und Kommunismus - gleich kriminell waren."
Es scheint "populär" in gewissen Kreisen zu sein, nun diese These vom "gleich kriminellen" Charakter immer wieder als Beleg für neue rechte Tendenzen zu nehmen. Ist denn aber damit nicht einfach erstmal ausgesprochen, dass der Stalinismus, und damit das, was damals im Namen der Sowjetunion angerichtet wurde, "gleichartig kriminell" anzusehen sind?
Oh, wunder, wer das nicht akzeptieren kann, und dann - an den Inhalten eines ganzen Buches vorbei - eben NICHT auch mal etwas zu sibirischen Straflagern sagen mag (und dem dazu gehörigen menschenverachtenden System). Noch wird eben von der westeuropäischen Intelligenz kaum erkannt, in welcher Lage die Menschen in den baltischen Staaten damals waren. Das hat Auswirkungen: Erst heute (am Mittwoch, dem 27.4.05) äusserte der ehemalige CDU-Minister Eggert (Sachsen) in einer Diskussion über die EU-Erweiterung im Deutschlandradio: "Ich habe Litauen und Lettland besucht. Die Menschen dort reden nur noch Englisch, sie haben ihre eigenen Sprachen fast verlernt." (!!) Hurra, Herr Eggert, auch Sie haben noch nicht gemerkt, welche Kulturen und Völker da eigentlich der EU beigetreten sind! Dermaßen in die Irre geführt, fühlen sich dann auch die Deutschen vor den berufsmässigen Anti-Nazis erschreckt, die mit dem hoch erhobenen Finger auf die Letten (und ihre Nachbarn) zeigen!
Bei vielen Verlegern und Publizisten würden übrigens solche "Rezensionen" gar nicht angenommen - Thema verfehlt (würde der Rezensent nicht Wolffsohn heissen!)
Und noch dazu: der berechtigten Notwendigkeit einer Holocaust-Aufarbeitung auch IN LETTLAND Schaden zugefügt, Herr Wolffsohn - denn auf diese Art und Weise gewinnen Sie keinerlei Glaubwürdigkeit bei den Menschen dort. Aber das wollen Sie wohl auch gar nicht, und bedienen lieber, wie gesagt, die eigene innenpolitische Klientel.
Matthias Knoll, der Übersetzer des Kalniete-Buches, hat auf die Wolffsohn-Rezension reagiert. Im Folgende die Wiedergabe seiner Erwiderung, nachzulesen auf www.literatur.lv:
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Einige Anmerkungen zu dem Artikel Keine Gesellen, nirgends von Michael Wolffsohn in der Welt vom 16. 4. 2005
(Rezension des Buches Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee von Sandra Kalniete)
1. Absatz
1. Sandra Kalniete wurde nicht im Gulag geboren. Nur die Oberhäupter der deportierten Familien wurden in Gulag-Lager interniert, Frauen und Kinder hingegen ohne Unterkunft, Verpflegung und Winterkleidung in sogenannten "Sonderansiedlungen" (zu Zarenzeiten "Verbannung" genannt) ausgesetzt (vgl. "Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee",
S. 9 bzw. Leseprobe bei http://www.literatur.lv/archiv/frisch03.htm).2. Nicht Sandra Kalnietes Eltern sind 1941 deportiert worden, sondern nur ihre Mutter Ligita. Ihr Vater Aivars wurde 1949 deportiert (vgl. "Mit Ballschuhen ...",
S. 8 bzw. Leseprobe bei http://www.literatur.lv/archiv/frisch03.htm).(In der Tat finden sich diese beiden Ungenauigkeiten nicht nur in Michael Wolffsohns Rezension, sondern auch auf dem Klappentext des im Herbig Verlag erschienenen Buches von Sandra Kalniete.)
3. J?nis Dreifelds, seine Frau Emilija und seine Tochter Ligita wurden nicht deportiert, weil sie "eher Balten als Sowjetbürger sein wollten". J?nis Dreifelds war vollkommen unpolitisch und gewillt, sich mit den Sowjets zu arrangieren (vgl. "Mit Ballschuhen ...", S. 37-39).
4. Der Oberbegriff "Balten" ist zwiespältig. Die Deutschbalten wollen ihn ausschließlich auf sich selber angewendet wissen (vgl. Bergengruen, von Vegesack u. a.). Esten definieren sich gemeinhin als Esten, Letten als Letten und Litauer als Litauer - auch und vor allem wegen der sehr unterschiedlichen historischen Erfahrungen dieser Länder.
5. Für die Sowjets waren Balten nicht nur Feinde, "sofern sie nach nationaler Selbstbestimmung strebten", sondern auch dann, wenn sie der wirtschaftlichen Mittel- oder Oberschicht angehörten, Intellektuelle waren, aufgrund von Denunziation auf einer der Deportationslisten standen - oder zufällig greifbar waren, wennn man zur Deportation vorgesehener Personen nicht habhaft werden konnte. Wie später die Erfüllung des 5-Jahresplans, stand auch hier die quantitative Erfüllung der "Norm" an erster Stelle (vgl. "Mit Ballschuhen ...", S. 166 ff.).
2. Absatz
1. Emilija Dreifelde starb nicht "an den Folgen der Zwangsarbeit", sondern aufgrund der unmenschlichen Lebensbedingungen in der Sonderansiedlung (vgl. "Mit Ballschuhen ...", S. 166 ff.).
2. Keineswegs galten die Letten "den Nazi-Ideologen als "dumme Bauern"". Mit der Beobachtung und Einschätzung der verschiedenen Gruppierungen innerhalb der lettischen Bevölkerung nahmen es die Gebietskommissare und Regierungsräte der Nazis sehr genau (vgl. entsprechende Berichte im Lettischen Historischen Staatsarchiv/LVVA, Fonds P-1018, Aktenverz. 1, Akte 2). So schreibt z. B. der Gebietskommissar in Mitau, SA-Standartenführer v. Medem, am 12. 8. 1941: "[...] Das entscheidende Mittel zur Erledigung jeder lettischen Staatsbestrebung ist: Die lettischen Kreise, denen man noch lettische Selbstverwaltung unter deutscher Aufsicht zubilligen kann, dürfen mit keiner lettischen Zentralstelle in Riga mehr verkehren, sondern sind in allem und jedem unterstellt dem deutschen Gebietskommissar, der über sie etwa die Tätigkeit eines russischen Gouverneurs vor 1914 ausübt. [...]" (Lettisches Historisches Staatsarchiv/LVVA, Fonds P-1018, Aktenverz. 1, Akte 2, Blatt 25).
Weiterhin waren die Männer im wehrfähigen Alter für die Nazis als Kanonenfutter von Bedeutung; so befahl Hitler am 10. Februar 1943 die Aufstellung einer "Lettischen SS-Freiwilligen-Legion", die aus völkerrechtlichen Gründen (Haager Konvention von 1907) der Waffen-SS unterstellt wurde. Aus dem Datum des Befehls geht übrigens hervor, daß lettische Angehörige der Waffen-SS nicht an den Massakern an Juden im Jahre 1941 beteiligt gewesen sein können, wie vielfach behauptet wird. Die von russischen und westlichen Medien zitierten "SS-Veteranen" - kein "dummer Bauer" war jemals Mitglied der SS-Eliteorganisation! -, die am 16. März zum Gedenken an die während verlustreicher Gefechte im März 1944 am Fluß Welikaja gefallenen Legionäre am Freiheitsdenkmal in Riga Blumen niederzulegen pflegen, haben sich niemals an Operationen gegen Zivilisten oder Juden beteiligt, sondern wurden ausschließlich an der Ostfront eingesetzt (vgl. "Mit Ballschuhen ...", S. 103 f. sowie Anm. 126 u. 127). Am 1. 8. 1943 schreibt der Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD Lettland in seinem Bericht: "Immerhin wirkt die [...] deutschfeindliche Propaganda der chauvinistischen Kreise doch noch erheblich nach, vor allem gerade auch in Kreisen der lettischen [Waffen-]SS-Legionäre und der Selbstschutzorganisationen. Hier wird - insbesondere in Offizierskreisen - die Notwendigkeit eines Schutzes des Landes auch vor den Deutschen im Falle eines Rückzugs der Deutschen oft erörtert. Es ist auffällig, daß [...] sich bei den in der Heimat in Ausbildung befindlichen Einheiten - vornehmlich im Offizierskorps - eine kraß nationalistische Einstellung und Ablehnung alles Deutschen immer stärker bemerkbar macht." (Lettisches Historisches Staatsarchiv/LVVA, Fonds P-1018, Aktenverz. 1, Akte 2, Blatt 180). Nichtsdestotrotz sahen sich die deutschen Befehlshaber veranlaßt, zur Motivierung der per Einberufungsbefehl eingezogenen Freiwilligen u. a. die Wiederherstellung eines unabh�ngigen Lettland zu versprechen (vgl. "Mit Ballschuhen ...", Anm. 125 u. 130).
3. Absatz
1. Sandra war nicht sieben (wie es auch im Klappentext des Buches fälschlich heißt), sondern viereinhalb Jahre alt, als ihre Eltern mit ihr nach Lettland zurückkehren durften (vgl. "Mit Ballschuhen ...", S. 9 bzw. Leseprobe bei http://www.literatur.lv/archiv/frisch03.htm u. S. 302).
2. Sandra Kalniete war nicht "Botschafterin in mehreren Staaten", sondern in Frankreich und bei der UNESCO.
4. Absatz
1. "[...] stilistisch und kompositorisch eher unbeholfen, schwülstig, gefühlsüberfrachtet, selten analytisch": Diese Be- oder Verurteilung des Buches ist ohne jedes Beispiel - also keineswegs analytisch, sondern eher unbeholfen - in den Raum gestellt. An dieser Stelle fehlt der Rezension genau das, was sie zu einer Rezension machen würde (immerhin ist der Beitrag in der Rubrik "Literarische Welt" erschienen).
2. Kalnietes Buch ist in ihrer Heimat keine "innenpolitische Visitenkarte", sondern ein sehr persönlicher Versuch, sich von drei ihrer Großeltern, die kennenzulernen ihr infolge des sowjetischen Unrechtssystems nicht vergönnt war, ein Bild zu machen. Der Erfolg des Buches liegt darin begründet, daß fast jeder Lette in ihm das Schicksal seiner eigenen Familie exemplarisch erkennen kann.
7. Absatz
Wolffsohn behauptet, daß "Antisemitismus lange vor der deutschen Besatzung in Lettland, wie in den beiden anderen baltischen Staaten, breit und tief in der Gesellschaft verwurzelt war". Dem muß widersprochen werden. Richtig ist, daß die Verfahrensweise der Republik Lettland im Umgang mit - u.a. jüdischen - Flüchtlingen vor der Okkupation durch Hitler-Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Staaten mit am liberalsten war (vgl. "Mit Ballschuhen ...", Anm. 113). Die Anfang der 1930er Jahre gegründete faschistoide (und antisemitische) Perkonkrusts-Organisation mit ihren wenige Hundert zählenden Mitgliedern war 1934 verboten worden (vgl. "Mit Ballschuhen ...", Anm. 42). Der von 1918 bis 1940 existierende lettische Staat garantierte sämtlichen ethnischen Minderheiten souveräne Rechte (Religions-, Presse- und Versammlungsfreiheit) - und u.a. Schulbildung auf Jiddisch und Ivrit. Diese Toleranz war und ist weltweit einzigartig.Mein Freund Anatols Imermanis (1914-1998), Dichter, lettischer Jude und in seiner Jugend Kommunist, saß von 1934 bis 1937 wegen kommunistischer Untergrundtätigkeit im Zuchthaus von Daugavpils. Seinen eigenen Worten zufolge wurde er dort "anständig behandelt und verpflegt" - und nach Verbüßung seiner Strafe entlassen. Wo sonst in Europa wäre zu diesem Zeitpunkt ein vergleichbarer Umgang mit Staatsfeinden - zumal mit jüdischen - vorstellbar gewesen? Der auch von Raul Hilberg anerkannte Holocaustforscher Andrew Ezergailis stellt fest: "Falls in Lettland vor 1918 ernstzunehmende antisemitistische Tendenzen zu beobachten waren, so wartet dieser Umstand noch immer auf seine Dokumentierung. Sowohl Mar?eris Verstermanis [der Leiter des Rigaer Museums Juden in Lettland, M.K.], der das Problem aus jüdischer Perspektive beleuchtete, als auch lettische Antisemiten, die in der Vergangenheit nach vermeintlichen Vorgängern forschten, kamen zu dem Schluß, daß es kaum oder sogar gar keinen Antisemitismus gab." (Andrew Ezergailis: The Holocaust in Latvia, 1941 - 1944: The Missing Center, 3. Kapitel "Antisemitism", 2. Absatz). Die Integration und unverbrüchliche Zugehörigkeit der Juden zur liv- und kurländischen Gesellschaft vor Gründung des lettischen Staates kommt in zahlreichen lettischen Volksliedern (dainas) oder in den Bühnenstücken von R?dolfs Blaumanis zum Ausdruck (insbesondere in dem bis heute meistaufgeführten lettischen Stück "Skroderdienas Silmacos" [Schneidertage in Silmaci] von 1902; der fahrende Schneider ist ein Jude). Siehe auch Frank Gordon: Latvians and Jews Between Germany and Russia, 1. Kapitel); vergleiche auch das Gedicht Die Jüdin von Aleksandrs Čaks von 1931.Nach der Annexion Lettlands durch Nazi-Deutschland haben Dutzende lettischer Staatsbürger Juden in ihren Häusern oder Kellern versteckt und gerettet; 35 von ihnen wurden vom Staat Israel als Gerechte unter den Völkern ausgezeichnet (vgl. "Mit Ballschuhen ...", S. 97 u. Anm. 118). Kalniete merkt an: "Die deutsche Information verschwieg, daß sich die Repressionen der Sowjets [gemeint ist die Massendeportation vom Juni 1941, M.K.] auch gegen 1771 Juden richteten - proportional die größte in Mitleidenschaft gezogene Bevölkerungsgruppe Lettlands. Laut neuesten statistischen Daten wurden 1,93% der lettischen Juden [von den Sowjets, M.K.] deportiert - im Vergleich zu 0,85% der ethnischen Letten [...]" ("Mit Ballschuhen ...", Anm. 115).
Letzter Absatz
Zitat Wolffsohn: "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland." Der Meister hatte viele Gesellen. Kalniete kennt und nennt nur den "Meister". - Richtig ist, daß Kalniete detailliert auf die Nationalität der an den Ermordungen Beteiligten eingeht (vgl. "Mit Ballschuhen ...", Anm. 110 und 119). Die Frage "Selbstkritik der Gesellen?" ist entweder unverständlich (ist Sandra Kalniete eine Gesellin des Meisters aus Deutschland? Oder hat sich der lettische Staat während seines Bestehens an Leib und Leben auch nur einer einzigen Person vergangen, so daß die Rechtsnachfolger jenes lettischen Staates die Verantwortung hierfür übernehmen müßten?) oder schlicht zynisch.Hinzufügen möchte ich, daß auch ein Meister einmal Lehrling war. Stalins Massendeportation vom 14. Juni 1941, da in einer einzigen Nacht (sic!) mehr als 60.000 Menschen aus fünf verschiedenen Ländern bzw. Regionen (Estland, Lettland, Litauen, Bukowina und Bessarabien) auf Grundlage entsprechend vorbereiteter Listen verhaftet, zu Verladebahnhöfen transportiert, in sorgfältig präparierte und zusammengekoppelte Viehwaggons gepfercht und über 6000 Kilometer in die lebensfeindlichen Weiten Sibiriens (die das Anlegen von Stacheldrahtzäunen und Wachtürmen überflüssig machen) verschleppt wurden, war eine logistische und organisatorische Meisterleistung, die Hitler nachhaltig beeindruckt haben dürfte. Auf Veranlassung Hitlers wurde Heydrich am 31. Juli 1941 von Göring mit der Ausarbeitung eines "Gesamtentwurfs" zur "Endlösung der europäischen Judenfrage" beauftragt, der während der Wannsseekonferenz am 20. Januar 1942 abgesegnet wurde. Daß es hier um die explizite Auslöschung des Judentums ging, bei Stalins Deportationen hingegen der Tod der Gulag-Häftlinge und Sonderangesiedelten "nur" billigend in Kauf genommen wurde, steht außer Zweifel.
Resumee
Insgesamt hat es den Anschein, als habe sich der Rezensent der Besprechung des falschen Buches gewidmet, geht es doch in Kalnietes Autobiographie um die Opfer des totalitären Sowjetregimes; diese Opfer sind nicht nach Nationalität, Rassen- oder Religionszugehörigkeit definiert, sondern durch eine (vermeintliche) Klassenzugehörigkeit sowie durch willkürliche zahlenmäßige Vorgaben, wieviele Personen zu deportieren seien (vgl. "Mit Ballschuhen ...", S. 36 bzw. Anm. 35). Nahegelegt wird diese Vermutung durch das Zitieren des fehlerhaften Klappentextes, die fehlende Auseinandersetzung mit der Gesamtgestalt des Buches sowie den in ihm dargestellten Personen und Fakten - und letztendlich die fehlende menschliche Anteilnahme am Schicksal der hier im Mittelpunkt stehenden nichtjüdischer Opfer des Totalitarismus in Europa. Gibt es vielleicht doch so etwas wie eine "Opferhierarchie"?Ich möchte Herrn Wolffsohn die Beförderung der Übersetzung von Ezergailis' Standardwerk "The Holocaust in Latvia" oder Frank Gordons "Latvians and Jews Between Germany and Russia" aus dem Englischen ins Deutsche ans Herz legen, um diese dann in der Welt zu besprechen. Ich vermute, daß er dann nicht umhin kann, der kleinen, bis heute von manch großem Spieler der Weltgeschichte begehrten und gebeutelten Nation, die sich als solche keinerlei Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht hat, seinen Respekt zu zollen.
Matthias Knoll, Übersetzer
Letzte Änderung am 26. 4. 05, - - Kommentare erbeten an knoll@literatur.lv
3 Kommentare:
Wir scheinen ja so gr�ndlich unsere Holocaustgeschichte aufgearbeitet zu haben. Viele meinen deswegen berechtigt zu sein, dann schnell den Zeigefinger gegen andere zu erheben,auch bei einem anderen Thema. L�cherlich.
Vor wenigen Jahren konnte ich erfahren, wie wenig wir �ber unsere lokalen Politker wissen, die damals in Riga waren:
Aus Osnabr�cker Mitteilungen 2001 (Historischer Verein), von Gerd Steinwascher.
Titel: Dr. Johannes Petermann- B�rgermeister und Regierungspr�sident von Osnabr�ck
...
"Ein Blick sei noch auf das Schicksal des Nachfolgers von Petermann im Jahre 1938 geworfen. Dr. Hanns Windgassen geriet nach seiner T�tigkeit in Riga und als Gebietskommissar in Libau in Kriegsgefangenschaft. In Riga agierte er seit 1941 als B�rgermeister; damit ergaben sich Spekulationen �ber eine Beteiligung seiner Person an den furchtbaren Geschehnissen, die sich in Riga als einem - gerade f�r die Osnabr�cker Juden- zentralen Ort der Judendeportationen und -ermordung abspielten. Der Vorsitzende der j�dischen Gemeinde M�nch in Osnabr�ck stellte 1950 diese Frage, allerdings nicht an Windgassen, sondern an einen weiteren Osnabr�cker Beamten der Stadtverwaltung, den sp�teren Verwaltungsdirektor Ernst Didem, der ebenfalls in Riga eingesetzt war. Dieser dementierte in heftiger Form und nahm in dieser Hinsicht auch Windgassen in Schutz. Als Gebietskommissar in Libau muss Windgassen ebenfalls erhebliche Machtf�lle besessen haben. Windgassen gelang es, von den alliierten Truppen offenbar in Wehrmachtsuniform gefangengenommmen zu werden. Auf dem Entlassungsschein gab er als Beruf Kaufmann und als Anschrift eine D�sseldorfer Wohnung an. Er versuchte also offensichtlich, seine Identit�t zumindest bez�glich seiner Osnabr�cker Tatigkeit zu verheimlichen. Aus diesem Grund meldete er sich auch nicht in Osnabr�ck zur�ck. F�r die Osnabr�cker Stadtverwaltung war er schlicht `verschwunden`. Auf Anordnung der Milit�rregierung hatte man ihn am 23. Mai 1945 mit sofortiger Wirkung entlassen, doch war die Verf�gung unzustellbar, da er sich nicht in seinem Haus in der Wei�enburgstra�e aufhielt. Sein Abtauchen dauerte bis zum Sommer 1949. Am 29.Juli 1949 lie� Windgassen sich in Wuppertal in einem m�ndlichen Verfahren entnazifizieren und wurde - f�r diese sp�te Entnazifizierungsphase nicht ungew�hnlich - glatt in Kategorie V eingruppiert und damit vollkommen entlastet."
1949 forderte er seine Wiedereinsetzung in sein Amt und schaltete in dieser Sache seine Rechtsanw�lte ein. Er hatte aber keinen Erfolg damit.
Steinwascher weiter: " Als Windgassen 1971 in Krefeld verstarb, schickte die Stadt Osnabr�ck einen Kranz, auf einen Nachruf verzichtete man, weil Windgassen keine Verbindungen mehr zu Osnabr�ck gehabt habe. So wurde in Osnabr�ck noch 1971 die S-Vergangenheit bew�tigt!"
So erfahren wir also nichts dar�ber, f�r was diese Deutschen in veranwortlicher Position in Lettland verantwortlich waren.
Und noch eine Buchempfehlung, die ich der Liste von Matthias Knoll hinzuf�gen w�rde.
Gerade erschienen im Fischerverlag. Julius Wolfenhaut, NACH SIBIRIEN VERBANNT als Jude von Czernowitz nach Stalinka 1941-1994.
Er beschreibt, wie durch den NKWD und andere Sowjetbeh�rden die Juden aus Czernowitz nach Sibirien in "Viehwaggons" abtransportiert wurden. Dort angelangt kreuzt sich sein Schicksalsweg auch mit dem der deportierten Letten. Es geht also um die Deportationen vor dem Einmarsch der Wehrmacht im Jahr 1941 in den sowjetisch besetzten Teilen nach Unterzeichnung des Hitler-Stalinpaktes.
Das Bild �ber Osnabr�ck und seine fr�here Geschichtsforschung nimmt ein immer d�steres Bild an.(Siehe erster Kommentar) In der lokalen Presse wurden gestern neue Ergebnisse aus Aktenfunden vorgestellt. Die Osnabr�cker Juden sind zum gro�en Teil nach Riga verschleppt worden. Aber wir wissen immer noch nicht, wer in dieser Kette bis zur Ermordung die Mitverantwortung in Deutschland daf�r tr�gt, wir fordern aber derartige Eingest�ndnisse, ohne ausreichende Quellen zu haben, von anderen. Das sind Ausz�ge aus dem Artikel:
NOZ 26.05.2005
"Auch 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges ist die Frage nach der Beteiligung lokaler Pers�nlichkeiten an den Verbrechen der Nationaldsozialisten ein �u�erst brisantes Thema.
...
Erich Gaertner war von 1927 bis 1945 Oberb�rgermeister. Noch lange nach Kriegsende wurde seine Arbeit allgemein mit Wohlwollen betrachtet. Man schrieb dem promovierten Juristen den Bau zahlreicher Luftschutzbunker zu, seine Aktivit�ten im Bereich Wohnungs-und Stra�enbau und seine F�rserung des kulturellen Lebens wurden bis zu seinem Tod im Jahre 1973 immer wieder lobend hervorgehoben.
Die Frage, ob Erich Gaertner nur Mitl�ufer oder aktiver Teil des NS-Apparats gewesen ist, beantwortet Michael Gander [Historiker]entschieden:"Wer aus einem Verbrechen Nutzen zieht, ist mehr als ein Mitl�ufer." Der Uni-Historiker st�tzt sein Urteil auf Dokumente, die Gaertner eine unr�hmliche Rolle im Zusammenhang mit dem Abriss der Synagoge 1938 und der Zwangsversteigerung des Grundst�cks nachweisen. Vieles deutet darauf hin, dass Gaertner daf�r sorgte, dass in Osnabr�ck das R�derwerk des Holocaust reibungslos funktionierte. Eintr�ge in das T�tigkeitsbuch der Polizei belegen, dass er sich auch aktiv f�r die Ausbeutung von Zwangsarbeitern einsetzte.
Die anschlie�ende, sehr emotionale Diskussion verdeutlichte die Brisanz des Themas. Auf den Vorwurf eines Zuh�rers, dass nach 60 Jahren die "W�hlt�tigkeit" der Forscher doch endlich mal ein Ende haben m�sse, reagierte Michael Gander gelassen: " Es ist die Aufgabe der Geschichtswissenschaft, derartige Hinterg�nde zu erforschen."...
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