(zum Beitrag "Keine Gesellen, nirgends," in: Die Welt, 16.04.2005 - als Brief an die Redaktion). Siehe auch: "In Ballschuhen für Lettland" auf dieser Seite.
Beitrag von Prof. Dr. Valters Nollendorfs, Mitglied der Historikerkommission Lettlands
Lösung vor der Endlösung?
Wenn es auf kollektive Verantwortung ankommt, sollte man vorsichtiger vorgehen, als es Ihr Rezensent Michael Wolffsohn tut ("Keine Gesellen, nirgends," Die Welt, 16.04.2005.). Sandra Kalniete hat recht getan, mit einem Mythos aufzuräumen, der - von den Nazis in die Welt gesetzt, von den Kommunisten später eifrig weiter propagiert wurde - dass die Osteuropäer, darunter die Letten, den Holocaust ohne deutsche Teilnahme selber ausgelöst hätten. Leider geistert diese Vorstellung und Anschuldigung noch immer in der Historiographie und noch mehr in der Mythographie.
Die neueste historische Forschung, die nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit auch in Lettland schonungslos durchgeführt wird, zeigt ein anderes Bild. Dass es lettische Gesellen gegeben hat, die am Holocaust teilgenommen haben, steht ausser Frage, und es werden immer mehr Details über die Holocaust-Ereignisse und ihre Ursachen in der zweiten Jahreshälfte 1941 entdeckt. Ausser Frage steht aber auch, dass diese Gesellen wirklich die Rolle der Gesellen spielten und dass der Holocaust im Osten von den Nazis nicht nur geplant, sondern auch geleitet wurde und zwar so, dass der Eindruck entstehen sollte, die Einheimischen hätten das Morden selber ausgelöst.
Dies scheint auch die ursprüngliche Absicht gewesen zu sein, als am 29. Mai 1941 eine hochrangige Sitzung im Aussenpolitischen Amt, also vor dem Angriff, folgerte : "Dass die Juden selbstverständlich von uns als Hauptschuldige hingestellt werden, wird sicher von der gesamten Bevölkerung [der besetzten Länder] begrüsst werden. Die Judenfrage kann zu einem erheblichen Teil dadurch gelöst werden, dass man der Bevölkerung einige Zeit nach Inbesitznahme des Landes freie Hand lässt" (AA, R 105193).
Einen Monat später am 29.06. und 02.07.1941 gab Reinhard Heydrich Anweisungen an die Leiter der Einsatzgruppen, aus denen schon ein gezielter zynischer Plan hervorgeht: "Den Selbstreinigungsbestrebungen antikommunistischer und antijüdischer Kreise in den neu zu besetzenden Gebieten ist kein Hindernis zu bereiten. Sie sind im Gegenteil, allerdings spurenlos auszulösen, zu intensivieren wenn erforderlich und in die richtigen Bahnen zu lenken, ohne dass sich diese örtlichen "Selbstschutzkreise" später auf Anordnungen oder auf gegebene politische Zusicherungen berufen können. Da ein solches Vorgehen nur innerhalb der ersten Zeit der militärischen Besetzung [...] möglich ist, haben die Einsatzgruppen- und kommandos [...] raschestens in die neu besetzten Gebiete wenigstens mit einem Vorkommando einzurücken, damit sie das Erforderliche veranlassen können" (zitiert nach Die Einsatzgruppen in der besetzten Sowjetunion 1941/42. Die Tätigkeits- und Lageberichte des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD, Hrsg. P. Klein, Berlin, 1997, S. 319, meine Hervorhebungen).
Dass es mehr "Auslösung" und "Veranlassung" als "Selbstreinigung" war, ist in den Geheimberichten des Kommandanten der Einsatzgruppe A Walter Stahlecker nachzulesen: "Nach dem Terror der jüdisch-bolschewistischen Herrschaft [...] wäre ein umfassendes Pogrom der Bevölkerung zu erwarten gewesen. Tatsächlich wurden jedoch durch einheimische Kräfte nur einige tausend Juden aus eigenem Antrieb beseitigt. Es war notwendig, in Lettland unter Sonderkommandos, unter Mithilfe ausgesuchter Kräfte der lettischen Hilfspolizei (meist Angehörige verschleppter oder ermordeter Letten) umfangreiche Säuberungsaktionen durchgeführt" (zitiert nach Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem internationalen Kriegsgerichtshof, Nürnberg, 14. November 1945 / 1. Oktober 1946, Bd. 30, Nürnberg, 1948, Dok. 2273-PS, meine Hervorhebungen).
Das sind Dokumente, die längst zugänglich aber unbeachtet geblieben sind und ein klares Bild aufzeigen. Ich bin einem Artikel des Historikers Dr. Karlis Kangeris, Universität Stockholm, verpflichtet, in dem diese Dokumente aufgeführt werden. Demnach war es also schon vor Kriegsanfang vorgesehen, im Osten massenweise Judenmord auszulösen und die Schuld den Einheimischen zuzuschieben. Es waren dabei nicht nur die SD-Einsatzkommandos, sondern auch die Wehrmacht in dieses Vorgehen eingeweiht und zur Durchführung verpflichtet. Zu diesem Zweck wurden lettische Männer bei den Exekutionen fotografiert. Zitate, die das Gegenteil behaupten, stammen zum Teil von überlebenden Opfern, die hinter den Tätern die Dratzieher nicht sehen konnten, zum Teil von uneingeweihten zufälligen Beobachtern oder aber von Leuten, die gezielt im Sinne des Nazi-Vorhabens Desinformation verbreiteten, einschließlich Hitler selbst (im Gespräch mit dem kroatischen General Kvaternik am 22.07.1941.). Aus diesen Kreisen stammt auch das verwandte Gerücht, dass die Letten und Ukrainer für das Morden besser geeignet gewesen seien als die Deutschen.
Die zahlreichen neuesten, von der Historikerkommission Lettlands beauftragten historischen Untersuchungen zum Holocaust im besetzten Lettland, ergeben ein klares Bild und bestätigen somit die oben zitierten Dokumente: (1) Es gab kein nennenswertes Interregnum zwischen der Flucht der Roten Armee und dem Einmarsch der Wehrmacht. Die lettischen Partisanen waren vor allem an Verhaftung von kommunistischen Machthabern und Verfolgung der sowjetischen Soldaten interessiert. Es gibt keine Beweise, dass sie während dieser Zeit jüdische Mitbürger verfolgt oder ermordet hätten. (2) Die ersten Judenmorde wurden von Mitgliedern der Einsatzgruppe A verübt. "Mithilfe ausgesuchter Kräfte" zu diesem Zweck fing erst nach dem Einmarsch der Wehrmacht und der "raschestens" folgenden Einsatzgruppe A an, die "das Erforderliche veranlasste." Fast alle Judenmorde waren geplant und wurden unter kontrollierten Zuständen und Trotz hetzerischer antijüdischer Propaganda nicht "ausufernd" und "eigenmächtig" durchgeführt, wie aus dem vom Rezensenten angeführten Zitat Raul Hilbergs hervorzugehen scheint.
Damit wird die Teilnahme von Letten an der Durchführung von NS-Judenvernichtungsplänen weder geleugnet noch gerechtfertigt. Es gab Gesellen. Es gab vor dem Holocaust, wie allerorts, auch in Lettland gewissen Antisemitismus, aber weder "breit" noch "tief" - woher weiss es der Rezensent? Es gab im unbhängigen Lettland keine Pogrome und keine Ghettos. Es gab diverse jüdische Minderheitenschulen. Die nationalistische antisemitische Organisation Perkonkrusts war verboten. Vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs durften sogar einige tausend Juden aus Deutschland in Lettland zuflucht finden. Seit dem 17.6.1940 gab es aber keine lettische Staatsmacht mehr, die hätte eingreifen können. Schon deshalb ist die bereits von den Nazis praktizierte Zuschiebung kollektiver Verantwortung entschieden abzulehnen. Diese wurde aber, wie Sandra Kalniete in ihrem Buch richtig beschreibt, später von den Kommunisten als ein Mittel der Einschüchterung und Unterdrückung eingesetzt und weltweit verbreitet. Nicht nur. Man braucht noch immer nur einige russische Internet-Seiten zu besichtigen, um die Verbindung Letten-Faschismus-Nazismus explizit dargestellt zu sehen und lesen.
Jahrzehntelang war es dem lettischen Volk verwehrt, die Wahrheit zu erforschen und sich den Verleumdungen zu widersetzen. Heute kann man mit Sicherheit behaupten: ohne die Nazis hätte es keinen Holocaust in Lettland gegeben. Weiterhin: ohne die erste kommunistische Besatzung hätten die Nazis höchstwahrscheinlich auch keine Helfershelfer gefunden. Und: ohne die zweite kommunistische Besatzung hätte man nicht 50 Jahre warten müssen, bis die Tatsachen ans Tagelicht kommen.
Der größte Massenermord auf lettischem Boden fand am 30.November und 8. Dezember 1941 statt. Die Erschießungen in Rumbula von etwa 25 000 Juden des Rigaer Ghettos leitete und überwachte Friedrich Jeckeln, der Höhere SS- und Polizeiführer im Ostland, in Anwesenheit mehrerer hoher Nazi-Beamten, als Meister persönlich die Exekutionen und statuierte somit den Gesellen ein Exempel, indem seine 10-12 SS-Männer an zwei Tagen fast mehr Leute umbrachten, als die Gesellen es in zwei Monaten der ersten Ermordungswelle es geschafft hatten. (Andrew Ezergailis, The Holocaust in Latvia 1941-1944, Riga, 1996, S. 239-70, Kalniete, 93-95).
Die berühmte Wannsee Endlösungs-Konferenz fand am 20. Januar 1942 statt. Die "Judenfrage" in Lettland war schon einen Monat davor "gelöst." Von etwa 90 000 lettischen Juden waren 65-70 000 tot.
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