13. Juli 2012

Bahnfahren durchs Politikgestrüpp

Als Anfang der 90er Jahre - kaum war der "eiserne Vorhang" gefallen - der von Estland mitfinanzierte "Balti Express" von Berlin über Warschau und Vilnius nach Tallinn fuhr, da hielten viele diese Reiseform um den Nordosten Europas kennenzulernen für ideal. Die gesellschaftlichen Unterschiede waren noch groß, die Menschen lebten in Stadt und Land noch völlig anders als in Westeuropa.
Allerdings war es damals noch schwierig, im Lande und auf Bahnhöfen weiterzukommen: kaum jemand konnte Englisch oder Deutsch Auskünfte geben, ein Fahrplanaushang war nur schwer zu finden, und vor den Schaltern standen die Wartenden manchmal in langen Schlangen - oft ohne leicht erkennbaren Grund. Mit dem Zug von Deutschland nach Lettland fahren hieß damals, sich ganz allmählich, von Bahnhof zu Bahnhof, anzunähern.
Ein Bild aus alten Tagen:schwerfällige Züge, energie-
fressender Betrieb, hohe Einstiege: die lettische Bahn
bedarf derModernisierung (Abb.:Bahnhof Tuckums 1996)

Die Bahn fährt hinterher
Wer seit damals jetzt zum ersten Mal wieder eine Zugverbindung nutzt, wird große Veränderungen feststellen. Der Hauptbahnhof Riga ist mit mehren Einkaufsmeilen verknüpft, der Weg zum Gleis manchmal schwer zu finden. Wer mit dem Schiff kommt - beispielsweise nach Ventspils oder Liepaja - wird staunen, dass dort so gut wie gar kein Bahnanschluß mehr zu finden ist. Und selbst wer von den einzeln noch in Betrieb befindlichen Schmalspurbahnen Lettlands mal gehört hat, wird wahrscheinlich Staunen an lettischen Bahnschaltern erregen, wenn auf einer Zugfahrkarte bestanden würde um deren Ausgangsbahnhöfe zu erreichen.

Valmiera, Sigulda, Salacgriva? Pärnu, Šiauliai,
Kaunas? Eigentlich möchten alle dabei sein - aber beim
Thema Bahnverkehr eilt es offenbar niemand
Dennoch ist das Netz der lettischen Bahnbetriebe ("Latvijas dzelzceļš") dieser Tage zu einem großen Thema der lettischen Politik geworden. Die Schienenstrecken müssen modernisiert werden, neue Waggons und Lokomotiven angeschafft, und auch die Wiedereröffnung guter internationaler Verbindungen zu den Nachbarländern ist längst überfällig. Allerdings gibt es in Lettland keine "Pro Bahn"-Kampagnen - auch wenn sich seit der Wirtschaftskrise nicht mehr jeder unbedingt ein Auto leisten möchte. Vielmehr sind hinter den verschiedenen öffentlich geäußerten Meinungen vermeintlich leicht entweder eigene (Geschäfts-)Interessen, oder diejenigen starker Lobbygruppen zu erkennen. So stritten noch im vergangenen Jahr die politischen Parteien über die Prioritäten: sollen zuerst die Bahnverbindungen nach Tallinn und Vilnius bzw. Kaunas - und damit innerhalb der EU - modernisiert und ausgebaut werden, oder sehen starke Interessenvertreter der Wirtschaft ihre Vorteile eher an einer besseren Verbindung nach Moskau?

Bahnfahren - auch eine Frage der Perspektive
Als sich im November 2011 die Regierungschefs der drei baltischen Staaten anläßlich eines Arbeitstreffens auf die Verwirklichung der Ziele des EU-weiten Projekts "Rail Baltica" verständigten, waren dennoch manche grundlegenden Fragestellungen noch gar nicht entgültig entschieden. Für welche Geschwindigkeit soll die Strecke ausgelegt werden, und soll auf der bisherigen breiten Spur (1520 mm) ausgebaut werden, oder die in Westeuropa übliche schmalere Spurbreite (1435 mm) eingeführt werden? Polen, Litauen, Estland und Lettland sind in das Projekt direkt involviert. Und während für Helsinki sich mit einer direkten Zugverbindung nach Berlin ein weiteres "Tor nach Europa" öffnen würde (über die konkrete Schienenverbindung zwischen Tallinn und Helsinki wird noch gegrübelt), steht aus Berliner Sicht das Projekt offenbar unter dem Schlagwort "von Berlin nach St.Petersburg". Ein möglichst attraktives Ziel "am anderen Ende" benennen zu wollen, das ist offenbar allen Akteuren gemeinsam.

die momentan wahrscheinlichste
Trassenvariante der "Rail Baltica"
Offiziell werden meist die europaweiten Ziele von "umweltfreundlichen Verkehrsformen", Verminderung des CO2-Gehalts in der Luft, und Vermeidung von zuviel Auto- und LKW-Verkehr als Begründung für das Projekt genannt. Jahrelang haben allerdings die politische Verantwortlichen der Region östlich der Ostsee die Bahn vernachlässigt: in Lettland ist gerade mal noch die Nahverkehrsverbindung zwischen Riga und dem Badeort Jurmala gut mit Passagieren ausgelastet. Längst hat das Streckennetz mit dem, was vor 20 Jahren mal nutzbar war, nicht mehr viel gemeinsam. Es fehlt auch wahrscheinlich das Gefühl, im Sinne starker Bürgerinteressen handeln zu können, wenn lettische Politiker vor der Frage stehen, sich für die Bahn als Verkehrsmittel einzusetzen. Als allerdings wegen der Vulkanasche aus Island im Frühjahr 2010 der Luftraum auch über Lettland tagelang nicht nutzbar war konnte jeder leicht erkennen, wie einseitig die Verkehrsströme ausgelegt sind - abseits von Flug, LKW, PKW und Bus hat die Bahn stark an Bedeutung verloren.

Dieser Waggon wurde von der EU mitfinanziert - zu sehen
auf der Bahnfahrt von Riga nach Tukums
Welche Streckenführung nutzt wem?
Nachdem bereits 2007 eine erste Machbarkeitsstudie erstellt worden war, gewann im Jahr 2010 die britische AECOM Ltd. eine Ausschreibung, um verschiedene Streckenvarianten zu untersuchen. Nachdem zunächst 20 Varianten in der Diskussion waren, wurden dann vier ernsthafte Varianten erwogen (sogenannte "rote", "orange", "gelbe" und "grüne" Route).Die "rote" Variante wurde als die beste ermittelt; falls diese so realisiert wird, wird es auf der "Rail-Baltica"-Route nur wenig Haltestellen geben: Tallinn Flughafen, Tallinn Stadt, Pärnu, Riga, Panevėžys und Kaunas. Insgesamt 728 km wäre diese Strecke lang: 229 km in Estland, 235 km in Lettland und 264 km in Litauen. Die Kosten für diese bis 2014 zu bauende neue "Schmalspur"-Schnellstrecke werden auf 3,68 Milliarden Euro geschätzt, der in Lettland zu bauende Teil soll 1,27 Milliarden Euro (889 Millionen Lat) kosten, wobei eine Mitfinanzierung durch die EU von mindestens 56% als gesichert gilt. Eine mögliche stärkere Mitfinanzierung durch die EU (bis zu 85%) hängt vor allem davon ab, ob Lettland diesem Bahnprojekt Vorrang gegenüber anderen Infrastrukturprojekten einräumt - zum Beispiel der Elektrifizierung der Bahnstrecke nach Moskau. Nach der Inbetriebnahme soll die Strecke sich für 30 Jahre selbst finanzieren - gerechnet wird vor allem mir einem starken Wachstum im Güterverkehr. Bahnreisende werden dann mit einem Grundpreis von 8 Cent pro Km rechnen müssen. 

Wem kommt da etwas Spanisch vor?
Gegner des Projekts rechnen für Lettland größere Möglichkeiten im Ost-West-Geschäft aus - also in der Elektrifizierung der Bahnstrecke Richtung Moskau. Aber das "Rail-Baltica-Projekt" ist nicht der einzige Diskussionsgegenstand, wenn es um die lettischen Bahnstrecken geht. Zum einen müssen natürlich auch die anderen existierenden Bahnstrecken modernisiert werden, und zum anderen wird der Ankauf neuer Loks und Waggons geplant. "Der Zugankauf könnte zum größten Finanzgeschäft in Lettlands Geschichte werden" meint der lettische Journalist Aivars Ozoliņš. Zum Politikum wurde es aber vor allem dadurch, dass dieses Projekt noch an "Oligarcheninteressen" zu hängen schien, während die Regierung Dombrovskis ja mit dem Motto der Zurückdrängung dieser großen Geldgeber (sogenannten Oligarchen) auftritt. Lange war das Verkehrsministerium von der ZZS (Zaļo un zemnieku savienība) und damit von deren Finanzgeber Aivars Lembergs beherrscht. Der von der vorigen Regierung bereits abgeschlossene Vertrag mit der spanischen CAF ("Construcciones y Auxiliar de Ferrocarriles SA") über den Ankauf von 34 Elektro- und 7 Dieselloks wurde als "für Lettland ungünstig" in Frage gestellt. Partner wäre die lettische Firma "Pasažieru vilciens" (PV), bzw. deren Waggonbaufirma RVR ("Rīgas vagonbūves rūpnīca").
Als die Europäische Union Druck machte - denn 100 Millionen Lat an EU-Unterstützung der 144 Millionen an Gesamtkosten waren bereits zugesagt - wurde im April 2012 ein neuer Vertrag unterschrieben, der aber auch nur dann in Kraft tritt wenn das Minsterkabinett ihn innhalb von sechs Monaten bestätigt. Das lettische Finanzministerium äußerte Einwände vor allem gegen den zweiten Teil des Vertrag, bei dem es nicht um den Ankauf, sondern um die Wartung der neuen Züge geht: auf 30 Jahre soll dies 280 Millionen Lat wert sein. Auch den Rücktritt von Justizminister Gaidis Bērziņš brachten einige politische Beobachter mit den Verhandlungen um eine Neufassung der Verträge in Zusammenhang, denn Bērziņš galt manchen als Vertreter der Interessen von Lembergs.

Werbeaussage im Bahnhof Riga:
"Zum Frühstück in Moskau, zum Abendessen in Riga"
Inna Šteinbuka, Lettlands Vertreterin bei der Europäischen Kommission, erneuterte kürzlich ihre Bedenken, Lettland könne die EU-Unterstützung in dieser Sache verlieren, wenn sich die Regierung nicht sehr bald mit den spanischen Partnern in allen Punkten einige. Der Gesamtwert des Vertragsumfangs soll sich auf 600 Millionen Euro belaufen. Noch immer wurden Einzelheiten zu den angeblichen Änderungen im Vertrag mit der CAF nicht veröffentlicht - die ja angeblich längst als Gewinnerin der Ausschreibung zu dem Projekt galt (und dabei den ursprünglichen Favoriten, die Firma "Bombardier", verdrängte). Wie kann man eine Ausschreibung als beendert erklären, danach aber vertraglich zugesagten Bedingungen als "ungünstig" für die lettische Seite erklären? Das ist wohl nur mit der lettischen Art des Bahnfahrens - mit vielen Zwischenstopps und Wechsel der Lokführer sozusagen - zu erklären.
Aus lettischer Sicht wichtig wird es sein, dass RVR weiterhin Züge und Waggons in Lettland bauen kann, und diese auch dem osteuropäischen Markt anbieten kann - in den vergangenen Jahren hatte RVR ähnliche Projekte mit Finnland, Georgien, Litauen, Estland, Russland und Georgien erfolgreich durchführen können. Die nächsten Monate werden zeigen, ob diese Arbeitsplätze und damit die lettische Waggonbautradition gesichert werden können.

1 Kommentar:

Axel Reetz hat gesagt…

Daß nur die Strecke nach Jurmala von den Passagieren gut angenommen ist, stimmt eigentlich auch nur im Sommer, wenn alle an den Strand fahren. Die Züge nach Zilupe oder Daugavpils sind immer voll.