Vier der acht EU-Abgeordnete aus Lettland entstammen, innenpolitisch gesehen, aus der sich als konservativ verstehenden, marktwirtschaftlich, anti-kommunistisch und Russland-skeptisch ausgerichteten politischen Schicht, die seit der Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands ununterbrochen die Regierung stellte. Auch Ex-Premier Godmanis könnte noch dazu gezählt werden - diese fünf stellten sich jedenfalls vor der ersten Sitzung des neu gewählten EU-Parlaments einem gemeinsamen Gruppenbild.
Ununterbrochen? Ja, richtig: trotz der unzähligen Regierungswechsel, trotz der phantasievoll mehrfach kurz vor anstehenden Wahlen neu gegründeten Parteien und Grupierungen - an einigen der handelnden Personen lässt sich weit mehr Kontinuität der politischen Entwicklung in Lettland ablesen als an den manchmal pompös und überheblich auftretenden Parteien. Allerdings wechseln diese Personen auch gern mal die Parteien - und verstehen dieses Verhalten dann wohl dennoch als persönliche Kontinuität.
Die neu gewählten lettischen Abgeordneten im Europaperlament bemühen sich nun, etwas von dieser bisherigen innenpolitischen Kontinuität auch in der internationalen Arbeit zu bewahren. Denn mit den gleichzeitig zu den Europawahlen durchgeführten Kommunalwahlen hat in der Hauptstadt Riga erstmals die Partei "Saskaņas Centrs" mit überzeugenden 34,29% einen Wahlsieg gelandet, stellt nun den Bürgermeister, und hat Lust auf mehr. Erstmals haben auch viele Letten - zumindest in Riga - denjenigen Parteien die Stimme gegeben, die eben NICHT als "pur lettisch" orientiert gelten.
Den Konservativen bleibt nicht viel mehr, als daheim "mangelnde Geschlossenheit" zu beklagen - die unübersichtliche Zahl immer neuer Parteien, Abspaltungen und Spezialparteien ist schon legendär. Auf Europaebene können drei der Neugewählten nun froh sein, in einer der einflußreichen großen Fraktionen gelandet zu sein: der Europäischen Volkspartei (EVP), der in Deutschland auch die CDU angehört.
Die drei lettischen EVP-Fraktionsmitglieder haben dabei drei eigentlich unterschiedliche politische Hintergründe:
Inese Vaidere, seit 2004 als gewählte Abgeordnete der "Vaterlandspartei" (TP) im Europaparlament, gruppierte sich in ihrer ersten Amtzeit noch zur "Union für ein Europa der Nationen" (UEN) - 29.8% erzielte die TB in Lettland 2004 und stellte damit ganze 4 EU-Abgeordnete. Wer Vaideres Biografie liest, bekommt einen Eindruck davon dass diese Frau bereits einen wahren "Marsch durch die Institutionen" hinter sich hat, und somit mit einigen politischen Wassern gewaschen sein müsste. So sah sie rechtzeitig den Aufstieg der vom ehemaligen EU-Abgeordneten und TP-Aussteiger Ģirts Valdis Kristovskis angeführte "Pilsoniska Savieniba" voraus und wechselte rechtzeitig die Standarte. Eine Frau übrigens, die eifrig an ihrer ganz persönlichen Reputation strickt, und ähnlich wie bei "Zimmer frei" (WDR-Fernsehen) auch die "ultimative Lobhudelei" gleich höchstselbst als Video auf die eigene Internetseite stellt ("lobhudeln" tun hier die EU-Parlamentskollegen, an dieser Stelle bisher durchweg Männer übrigens). Das EU-Parlament als Familienersatz? - Vaidere wird in den EU-Parlamentskomittees nun unter anderem an Minderheitenfragen arbeiten.
Bei der EVP trifft Vaidere nun mit Sandra Kalniete auf eine (Partei-)Kollegin, die ebenfalls schon mehrere andere politische Stationen hinter sich hat. Geboren im Gebiet Tomsk in Russland als Kind von nach Sibierien verbannten Letten (Siehe auch "Mit Ballschuhen im sibirischen Schnee"), betätigte sich Kalniete aktiv an den Aktivitäten der lettischen Unabhängigkeitsbewegung (auch "Volksfront" - Tautas Fronte - genannt), wurde später Diplomatin, Bot- schafterin und Aussen- ministerin ihres Landes. 2004 sollte sie auch zu Lettlands erster EU-Kommissarin ernannt werden - eine Archivseite der EU dokumentiert heute noch die damalige Lage. Der Fall Kalniete war damals einer von vielen Fallstricken der Regierung Emsis.
Zunächst galt Kalniete als der Partei "Jaunais Laiks" (Neue Zeit) nahestehend, inzwischen stellt sie sich zusammen mit ihrem "alten Weggefährten" aus Volksfrontzeiten, Ģirts Valdis Kristovskis, als "Lokomotive" für die "Pilsoniska Savieniba" zur Verfügung. Diese schwenkte nun im EU-Parlament zur EVP um. Kalniete wird nun im Komittee für Verbraucherschutz arbeiten - wohl eher eine neue Aufgabe für sie.
Bereits am ersten Arbeitstag verkündet Kalniete auch das erste Arbeitsergebnis: Kalniete ist (im Gegensatz zu Vaidere, aber zusammen mit Ex-Präsidentin Vīķe-Freiberga) Mit-Unterzeichnerin eines offenen Briefes von 22 osteuropäischen Politiker/innen an Barack Obama, in dem auf eng beschriebenen 7 Seiten auf die wichtige Rolle Osteuropas aufmerksam gemacht wird im Zusammenhang damit, diese Staaten nicht mit den Folgen der gloablen Finanzkrise allein zu lassen (voller Text hier).
Dort - bei der EVP-Fraktion - trifft Kalniete nun auch auch auf Artūrs Krišjānis Kariņš, geboren in den USA, einer der Führungsfiguren und Mit-Gründer gerade eben dieser "Neuen Zeit" (JL) - die aber im Europaparlament schon länger der EVP-Fraktion angehört. Allerdings musste die JL im Europaparlament den Verlust von Valdis Dombrovskis ersetzen, der Anfang 2009 nach Lettland als Regierungschef zurückkehrte. Das EU-Parlament also als Warmhaltebecken für lettische Karrierepolitiker? Demnach hätte Kariņš ja noch Hoffnung. Der JL-Wahlslogan "Tagad!" (jetzt!) passt auf viele Verhaltensweisen.
Kariņš war eigentlich mal Linguist und Philosoph, aber wer "aus dem Exil" nach Lettland zurückkehrt, der tut das meist mit größeren Plänen. Als Wirtschaftsminister musste er 2006 abtreten, nun tritt er im Europaparlament eine neue Rolle an: als Leiter der lettischen Delegation bei der EVP. Kariņš war einer von insgesamt 6 Kandidaten auf den lettischen Wahllisten zum Europaparlament mit doppelter Staatsbürgerschaft - er ist auch noch US-Staatsbürger. Kariņš wird sich in den EU-Parlamentskomittees unter anderem um Energiefragen kümmern können - ein Lieblingsthema aller Balten.
Der vierte lettische Konservative im EU-Parlament, Roberts Zīle, ist der letzte der ehemals glorreichen vier Vertreter der Vaterlandspartei TB im Europaparlament. Er zog schon bisher die Fraktion der UEN lieber der EVP vor - bei der UEN waren in der bisherigen Legislaturperiode Kristovskis, Vaidere, Zīle und Guntars Krasts vereint. Krasts lief zum lettischen Zweig der "Libertas" über und erreichte bei den Europawahlen immerhin 4,3%. Zīle setzt sich eigenen Aussagen zufolge vor allem für ein Europa eigenständiger Staaten ein, ihm widerstreben die föderalistischen Ideen in anderen Fraktionen. Die UEN gibt es nicht mehr, aber mit einem Kern von aus der EVP ausgetretenen britischen Tories, einigen europakritischen Polen und Tschechen konnte nun die "Europäischen Konservativen und Reformisten" (ECR) als Fraktion gegründet werden. Roberts Zīle hat sich nun das Komittee für Verkehr und Tourismus als Arbeitsgebiet ausgesucht (wie auch schon in seiner bisherigen EU-Abgeordnetenzeit - und auch in Lettland war Zīle sowohl für Finanzen als auch schon für Verkehr zuständiger Minister).
Eine der größten Gefährdungen für eine erfolgreiche Tätigkeit Zīles im Europaparlament ist auch hier wahrscheinlich die lettische Innenpolitik: in Riga hat seine Vaterlandspartei eine vernichtende Niederlage erlitten und den Posten des Bürgermeisters abgeben müssen. Auch in der lettischen Regierung würde der TB wohl als erste der Stuhl vor die Tür gesetzt werden, wenn andere Parteien sich mit dem Saskaņas Centrs auf eine Zusammenarbeit einigen können. Da wäre der Ruf nach erfahrenen Leitfiguren für die eigene Partei zu Hause eine logische Folge, da ja das Europaparlament mit seinen komplzierten Strukturen weniger den parteipolitischen Interessen zu dienen scheint. Und dann, Herr Zīle? Abspringen, Partei wechseln, oder zurück in die "Provinz"?
Eine Frage in der Euopapolitik Lettlands bleibt vorerst noch offen. Nein, ich meine nicht die Spekulation, wie lange die momentane Regierung noch durchhält. Allerdings hängt die Nominierung einer lettischen EU-Kommissarin (eines Kommissars) auch damit zusammen. Die Koalitionsparteien der Regierung Dombrovskis haben sich hier noch nicht eindeutig positioniert. Das Trauma von 2004 ist allen noch gegenwärtig: nur nicht wieder jemand bekannt geben, der / die dann einige Wochen später doch lieber nicht bestätigt wird ....
P.S.: Der "Europrofiler" gibt die Möglichkeit, nach Beantwortung einiger europäischer Fragestellungen (in Englisch) nachzuprüfen, welcher lettischen Partei man mit den eigenen politischen Einstellungen nahestehen würde. Allerdings: die Motivation lettischer Wähler ist da doch eine völlig andere, und die typischen lettischen politischen Schweidewege lässt auch der Europrofiler leider weg ...
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