11. April 2009

Bei nicht Gefallen – Abwahl

Jetzt ist es also beschlossen: In Lettland wird das Volk künftig per Referendum das Parlament auflösen können. Eine ungewöhnliche Regelung im internationalen Vergleich, denn anderswo können die Legislativen sich entweder selbst auflosen oder stehen im Falle einer Beschlußunfähigkeit unter dem Verdikt des Staatsoberhauptes. Die Saeima hat mit dieser Verfassungsänderung jedoch ihr Versprechen an Präsident Zatlers auch terminlich eingehalten. Und das war in diesem Fall ebenso wichtig wie der Inhalt.

Rückblende
Noch am Nachmittag des 31. Märzes wurde spekuliert, ob Präsident Valdis Zatlers am Abend ankündigen werde, die Auflösung des Parlaments zu veranlassen. Er nahm schließlich mit einer ausführlichen Begründung davon Abstand.

Zur Erinnerung, in Lettland ist die Parlamentsauflösung nach der Verfassung von 1922 nur auf Anregung des Präsidenten möglich, worüber dann ein Referendum stattfinden muß, daß im Falle eines ablehnenden Ergebnisses den Präsidenten selbst das Amt kostet.

Das Staatsoberhaupt hatte in seiner Reaktion auf die Ausschreitungen vom 13. Januar Parlament und Regierung aufgefordert, einige konkrete Beschlüsse zu fassen. Sollte dies nicht bis zum 31. März geschehen, werde er der Verfassung entsprechend die Parlamentsauflösung anregen. Da Zatlers damit der Politik eine Frist setzte, kam seiner Forderung einem Ultimatum gleich.

Die Einmischung des Präsidenten in die Arbeit von Legislative und Exekutive war verfassungsrechtlicht fragwürdig. Lettland ist eine parlamentarische Demokratie. Trotzdem erhielt Zatlers hinreichenden Beifall, weil in Bevölkerung und Medien begrüßt wurde, daß überhaupt einmal ein politischer Würdenträger durchgreift. Zustimmung gab es auch zum Inhalt. Der Präsident forderte:

- Die Wahl eines neuen Chefs der Anti-Korruptionsbehörde. Diese Position war seit der Absetzung von Andrejs Loskutovs im Frühjahr 2008 vakant.
- Neue Gesichter in die Regierung.
- Die Änderungen des Wahlgesetzes und damit die Abschaffung der Möglichkeit, in mehr als einem der fünf Wahlkreise zu kandidieren.
- Eine Ergänzung der Verfassung, die der Bevölkerung das Recht zur Parlamentsauflösung per Referendum gibt. Ein Referendum über eben diese Ergänzung auf Volksinitiative war 2008 wegen zu niedriger Beteiligung gescheitert.

Politische Hyperaktivität
Tatsächlich haben Parlament und Regierung es geschafft, diese Aufgaben in ungewohnter Eile zu erfüllen, obwohl im selben Zeitraum nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Ivars Godmanis auch noch eine neue Regierung gebildet werden mußte – aber auch das war freilich ein Teil der Forderungen Zatlers’.

Zunächst wurde eine neue Koalition unter Einschluß und sogar Führung der bisher oppositionellen Neuen Zeit gebildet. Ein neuer Chef der Anti-Korruptionsbehörde wurde eingesetzt, wenn auch umstritten blieb und kritisiert wurde, daß erneut die stellvertretende Leiterin, Juta Strīķe, nicht berufen wurde. Das Wahlgesetz wurde ebenfalls wie verlangt geändert.

Nur der Verfassungzusatz, im Gesetzgebungsverfahren die komplizierteste Forderung, war zwar bis zum 31. März nicht abgeschlossen; das Parlament versprach jedoch, dies bis zum 8. April nachzuholen.

Gesagt – getan; nun hat Ministerpräsident Valdis Dombrovskis alle Aussichten, daß seine Regierung bis zu den turnusmäßigen Wahlen im Herbst 2010, wie er sich anläßlich seiner Nominierung bereits gewünscht hatte, wird im Amt bleiben können. Denn, regt der Präsident die Auflösung des Parlamentes nicht jetzt an, was wegen der verschiedenen juristischen Fristen eine vorgezogene Wahl erst im Herbst 2009 nach sich ziehen würde, ist eine nur um wenige Monate vorgezogene Wahl anschließend wenig sinnvoll und daher unwahrscheinlich.

Veränderte Situation?
Die Drohung des Präsidenten ist damit weitgehend verpufft, wenn auch Kommentatoren bereits vorschlugen, Zatlers möchte nun den nächsten Forderungskatalog aufstellen.

Andererseits hatte Zatlers kaum eine Alternative. Und so begründete er auch seinen Rückzug. Hätte der Präsident die Parlamentsauflösung angeregt, wäre die gerade erst angelobte neue Exekutive bis zum allfälligen Urnengang ein Kabinett auf Abruf gewesen, eine lahme Ente. Doch gerade in der Krise ist eine handlungsfähige Regierung für Lettland von großer Bedeutung. Bereits Godmanis beklagte nach seinem erzwungenen Rücktritt, daß sich die Königsmörder hätten überlegen müssen, welche Folgen für das Land entstehen, wenn in die Verhandlungen mit dem IWF eine nicht unterschriftsberechtigte Regierung geht.

Gewiß, die neue Regierung wird nun angeführt nicht nur von einem an Jahren jungen Politiker. Es gibt auch eine Reihe von Ministern, die bislang keine hohen politischen Ämter innegehabt hatten. Andere Spitzenpolitiker haben allerdings nur eine Rochade vollzogen.

Andererseits stellt sich die Frage, warum dies alles nicht auf dem gewöhnlichen parlamentarischen Weg funktionieren konnte. Noch Anfang März hatten alle Koalitionspartner bei einem oppositionellen Mißtrauensvotum Ivars Godmanis gestützt, um ihn nur zwei Wochen später zum Rücktritt zu drängen. Der Präsident erklärte damals, Godmanis genieße sein Vertrauen nicht mehr. Bereits damit überschritt er seine Kompetenzen, denn in einer parlamentarischen Demokratie benötigt der Regierungschef nur das Vertrauen des Parlaments.

Der damalige Innenminister Māreks Segliņš hätte als Parteivorsitzender der Volkspartei ganz einfach durch seinen Rücktritt und den aller Minister seiner Partei aus der Koalition ausscheiden können, um Godamnis die Mehrheit zu entziehen.

Der Zusatz zur Verfassung
In der Diskussion um die Verfassungsergänzung stritten die Parteien über die erforderlichen Quoten. Bekanntlich sieht die Verfassung schon bisher Unterschiede für die Volksabstimmungen über Verfassungsänderungen und einfache Gesetze vor – die Beteiligung der Hälfte aller Wahlberechtigten oder nur der Beteiligung bei den letzten Parlamentswahlen. Bei einer durchschnittlichen Beteiligung von ungefähr 70% ist die Anforderung bei einfachen Gesetzen also deutlich abgeschwächt.

Volkspartei, Erste Partei / Lettlands Weg sowie Bauernunion und Grüne verlangten für die Parlamentsauflösung die qualifiziertere Quote, während die pro-russischen Parteien Harmoniezentrum und Für die Rechte des Menschen in einem integrierten Lettland wie auch die Bürgerliche Union und die Gesellschaft für eine andere Politik für die abgeschwächte Variante eintraten. Die nationalkonservative Für Vaterland und Freiheit lehnte die Ergänzung der Verfassung grundsätzlich ab.

Der Kompromiß sieht nun zwei Drittel der Wahlbeteiligung der letzten Parlamentswahlen und die Hälfte der Wahlberechtigten vor. Das ist zweifellos eine eher hohe Hürde.

Der Parlamentsauflösung auf Volksinitiative werden weitere Zeitbeschränkungen auferlegt. Ein Referendum kann im ersten Jahr nach einer Wahl und im letzten vor dem nächsten Urnengang wie auch während der letzten sechs Monate der Amtszeit des Präsidenten nicht stattfindet. Darüber hinaus muß zwischen zwei angestrengten Versuchen mindestens ein halbes Jahr liegen.

Der Verfassung innere Widerspruche
Dzintars Rasnačs von Für Vaterland und Freiheit, der in den 90er Jahren Justizminister war, kritisiert, die Letten wurden nun zu Versuchkaninchen. Der Politiker begründet diese Auffassung mit der Unüblichkeit des nun verabschiedeten Mechanismus in der demokratischen Welt. Doch warum soll eine exotische Regelung allein aufgrund ihrer Einzigartigkeit zweifelhaft sein?

Demokratietheoretisch fragwürdig sind andere Aspekte. Die Möglichkeit einer Auflösung des Parlaments ist generell nicht an Verfahrengründe, sondern an Einschätzungen und Zufriedenheit gebunden. Die Legislative Lettlands steht folglich nicht wie anderswo unter dem Verdikt einer vorgezogenen Neuwahl nur dann, wenn sie etwa über einen konkreten Zeitraum außerstande ist, eine neue Regierung zu bestätigen oder den Haushalt zu verabschieden, wenn also das politische Prozeß ins Stocken gerät.

Als Grund dafür bennenen andere Verfassungen sowohl die Unfähigkeit einer Mehrheitsfindung trotz entsprechender Bemühungen der Abgeordneten, wie auch die Erkenntnis der Abgeordneten, in der gegebenen Parlamentszusammensetzung nicht mehr arbeiten zu wollen.

In Lettland ist statt dessen einerseits wie bisher das Mißfallen der Rigaer Burg ausschlaggebend, dem nun jenes der Bevölkerung hinzugefügt wird. Im ersteren Fall mag ein Präsident eine tatsächliche Beschlußunfähigkeit des Parlamentes zum Anlaß nehmen. Wenn aber das Volk bereits ein Jahr nach seiner eigenen Wahlentscheidung bereits sein Mißfallen zum Ausdruck bringen kann, dann geht es nicht um die Fähigkeit des Parlamentes zur Gesetzgebung, sondern um die Unzufriedenheit mit Abgeordneten, also Personen und mit Inhalten, also Policy. Beides ist de facto eine Annäherung an die Idee des imperativen Mandats. Damit stellt sich die Frage, ob dem nun beschlossene Verfassungszusatz nicht eine Portion Verfassungswidrigkeit innewohnt, weil Ablehnung der konkreten Politik ein Widerspruch zur Gewissensfreiheit des Agbeordneten ist.

Doch nicht nur das gibt zu denken. Auch die Diskussion um die Quoten gilt es demokratietheoretisch zu beleuchten. Die geringere, von einigen Parteien geforderte, jedoch nicht realisierte Quote hatte nämlich bedeuten können, daß bei einer geringen Wahlbeteiligung ein Jahr nach dem Urnengang mitunter 16% der Wahlberechtigten ein Parlament auflösen, welches 60% der Wahlberechtigten gewählt haben. Aber auch die verabschiedete, qualifizierte Quote ermöglicht es, daß zahlenmäßig weniger Wähler ein Parlament aufzulösen in der Lage sind, als sich an seiner Wahl beteiligt haben.

Alle diskutierten Probleme sind darauf zurückzuführen, daß Lettland 1993 die alte Zwischenkriegsverfassung wieder in Kraft gesetzt hat, die ähnlich wie die Weimarer Verfassung, unter dessen Eindruck sie entstanden war, keine konsequente Gewaltenteilung vorsieht und damit deutlich über das in parlamentarischen Demokratien allgegenwärtige Problem der Mehrheitskongruenz in Parlament und Regierung hinaus geht.

Fazit
Weder der Entstehungsprozeß der Verfassungsänderung ist über alle Zweifel der demokratischen Willensbildung erhaben, noch ihr Inhalt, der außerdem an schon bestehenden Unzulänglichkeit nichts ändert. Ganz im Gegenteil: Die Schwierigkeiten, an denen die lettische Politik krankt, werden nicht repariert. Statt dessen zementieren derzeit policy und politics, Inhalt und Prozeß der Verfassungsänderung die oligarchische Struktur des Regierens in Lettland.

Freilich bleibt anzumerken, daß wie gewöhnlich bei derartigen Verfassungsänderungen diese erst nach der kommenden Wahl in Kraft treten. Wie Vineta Muižniece, die Vorsitzende des Justizausschusses sagt, müsse das jetzige Parlament in dem gesetzlichen Rahmen arbeiten, unter dem es gewählt wurde.

Die turnusmassigen Wahlen finden im Herbst 2010 statt. Welche Rolle könnte die Verfassungsergänzung ab Herbst 2011 spielen?

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