Nur 10 Jahre ist es her, als Lettland ausgerechnet im häufig beneideten Nachbarland Estland einen großen Sieg einfuhr: Marija Naumova gewann mit "I wonna" den Eurovision Song Contest (ESC) des Jahres 2002 in Tallinn. Das Land, noch kaum bekannt in Europa, machte einen kollektiven Jubelsprung, und schaute sich ungläubig um: kann das sein, dass wir in Europa mithalten können? Zwei Jahre vor dem EU-Beitritt und ein Jahr vor der Volksabstimmung darüber sorgte das Ereignis zwar für jahrelange Verstimmung in Westeuropa (fortan war davon die Rede, "die Osteuropäer" würden sich nur gegenseitig die Stimmen geben, jenseits jeder musikalischen Qualität). Aber die nachhaltige Wirkung dieses Sieges und dessen internationale Nachwirkungen sorgte sicherlich ein wenig für europäisch-positiven Optimismus von Europa mit offenen Armen empfangen zu werden.
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Als Siegerin von 2002 moderierte Marija Naumova im Jahr darauf den Contest zusammen mit Renārs Kaupers („Brainstorm“) und strahlte von allen Großbildleinwänden in Riga |
Zwar war die Ausrichtung des ESC im darauffolgenden Jahr auch von ähnlichen Aktivitäten begleitet wie momentan in Baku (russische Aktivisten versuchten die internationalen Medien in Riga auf die Lage der russischen Minderheit aufmerksam zu machen). Aber insgesamt wurde "Marie N." (wie sie sich auch nannte), die ja selbst russisch stämmig, allerdings fließend Lettisch sprechend ist, nachhaltig zu einer ähnlichen "Respektsperson" in der lettischen Musikbranche wie es heute Lena in Deutschland zu werden scheint.
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Die große Begeisterung für Marie N, Lettland und die Eurovision liegt lange zurück |
Heute scheinen diese berauschten Zeiten schon sehr lange zurück zu liegen. Eine Zeitlang konnten die Letten noch mitleidig auf die litauischen Nachbarn herabsehen, die im Falle der traditionellen "Dainas" und deren Anerkennung als Weltkulturerbe noch mithalten konnten, aber bei der Eurovision noch nie unter die ersten Drei kamen (Lettland mit "Brainstorm" und "Marie N." gleich zweimal). Das passte zum lettischen Selbstwertgefühl, eigentlich immer schon besser singen als Reden halten zu können.
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Proben zum Songcontest in Riga 2003: "Lou" sang für Deutschland, und Ralph Siegel war wie so oft dabei |
Ist Lettland die Eurovision inzwischen gleichgültig geworden? Wenn es nach der Zahl der Wortmeldungen in den lettischen Internetforen geht, nicht. Zwar hat sich in manchen Medien so ein leicht lakonisch-ironischer Kommentarton eingestellt, wie es auch in Deutschland vielfach üblich ist: abfällig bewerten, und vielleicht doch anschauen. In den vergangenen Jahren scheiterten lettische Beiträge regelmäßig im Halbfinale. Was national gut funktioniert (etwa der nach dem guten alten "Liepajas-Dzintars" aussehende Langmähnenlook von "Fomins & Kleins"), oder die in Lettland erfolgreiche Sängerin "Aisha" scheiterte entweder an eigener Nervosität (fehlender "Abgebrühtheit"?) oder der engen Konzentration auf angeblich "typisch lettisches". Lediglich totale Maskerade und Verzicht auf nationale Wiedererkennbarkeit ("Pirates of the Sea") ebnete wenigstens noch den Weg in ein Finale.
Nun also das erneute Scheitern mit
AnnMarie. Aber diesmal scheint es nicht einfach unter dem bekannten Spruch "Eiropa mums nesapratis" ("Europa versteht uns nicht") abgehakt zu werden. Alt-Meister
Raimonds Pauls meldete sich zu Wort, und viele stimmen seinen Thesen zu. "Keiner hat das Recht mit dem Finger auf Annmarie zu zeigen", meint er. Vielmehr sei er schockiert gewesen über die quasi nicht vorhandene Bühnenshow und das furchtbar altbackenen Outfit der lettischen Protagonistinnen. Man sollte sich ein Beispiel am dänischen Beitrag in Baku nehmen: der Song nichts besonderes, aber die Bühnenshow ideenreich. "Man war angeregt hinzuschauen", meint der Komponist vieler bekannter lettischer Lieder und Ex-Kulturminister. Und ein wenig scheint es in Lettland auch zu wurmen, dass ausgerechnet Putins Russland mit einem lustigen Folklore-Song a la "
Suitu sievas" Erfolg hat. Ähnliches empfiehlt Pauls dem eigenen Land auch für die Zukunft, oder vielleicht einen der charmanten Schauspieler Lettlands - Jānis Paukštello, Harijs Spanovskis oder Andris Bērziņš zum Beispiel - mit einem Lied auf die europäische Bühne zu schicken. Wem halten die Letten heute abend die Daumen? Natürlich den estnischen und litauischen Nachbarn vermutlich - aber vielleicht schwingt sogar etwas Sympathie für die udmurthischen Omas mit.
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