21. Dezember 2016

Vier Jahre 100 feiern

Wenn am 26. Dezember im australischen Melbourne die 56.Lettischen Kulturtage eröffnet werden, wird das Event bereits als Startschuß gezählt in einer langen Reihe von Feierlichkeiten zu Lettlands 100. Unabhängigkeitsgeburtstag. Von Australien aus wird eine spezielle Flagge dann weitergereicht, gestaltet von der Textilkünstlerin Dagnija Kupča aus Cēsis, die über alle Kontinente der Erde hinweg 2018 dann zurück nach Lettland kommen soll.

Lettland wird sich die Feierlichkeiten zum 100.Unabhängigkeitsjahr 2018 voraussichtlich 60 Millionen Euro kosten lassen - als Basis verabschiedete am 13.Dezember das lettische Regierungskabinet einen entsprechenden Etatplan. Insgesamt gäbe es 800 verschiedene Projektideen dazu in Lettland, und weitere in 70 Staaten der Welt, es wird Veranstaltungen bis ins Jahr 2021 dazu geben. Als "Sprachrohr" dazu wurde eine spezielle Internetseite geschaffen: LV100.lv. Wer sich das Grundsatzpapier des lettischen Kulturministeriums zu diesem Thema durchliest, stößt auf teilweise erstaunliche Thesen.
Der langfristige Erhalt der lettischen Staatlichkeit sei im wesentlichen vom Wunsch der Menschen abhängig, Lettland als unabhängigen Staat erhalten und an seinem Wachsen mitarbeiten zu wollen, heißt es da. Von "Valstgriba" ist viel die Rede ("Staatswillen"). Und dann folgt ein erstaunliches Eingeständnis: lettische Sozialwissenschaftler hätten festgestellt (Quellen werden nicht genannt), dass in den vergangenen 15 Jahren Umstände sich entwickelt haben, die eventuell geeignet seien, den lettischen "Valstgriba" zu schwächen. Gegenüber staatlichen Institutionen sei ein großes Mißtrauen festzustellen, die politische Beteiligung schwinde. Viele träumten von einem Modell angeblicher sozialer Sicherheit, so wie es das Sowjetsystem versprochen habe. Aufgrund den Errungenschaften der Europäischen Union in punkto persönlicher und beruflicher Mobilität hätten mehr als 250.000 Menschen Lettland verlassen, stellt das Ministerium fest. Gleichzeitig habe sich das Unsicherheitsgefühl in einen Regionen des Landes verstärkt. Aber sowohl die Einwohner Lettlands wie auch die im Ausland wohnenden Staatsangehörigen hätten sich bisher ihren Patriotismus und nationales Zugehörigkeitsgefühl bewahrt - beides soll durch die Hundertjahrfeier gestärkt werden. Motto wird sein: "Ich bin Lettland" (Es esmu Latvija).

Die lettische Presse rechnet vorerst nur in nackten Zahlen.Das Gesamtbudget aller Aktivitäten summiert sich auf 60 Millionen Euro - 32 Millionen sollen dabei aus dem Staatssäckel kommen. Ein Teil dieser Summe bezieht sich allerdings auf bereits regelmäßig stattfindende Kulturveranstaltungen, wie etwa die 6,5 Millionen Euro, die für das 2018 regulär anstehende Sängerfest bereitgestellt werden (delfi.lv).

Geht ab sofort im Spezialkoffer
auf Reisen: die lettische
Flagge wird 2018 zurück
erwartet
Wie einleitend ja bereits gesagt, sind also auch etliche Gelder dafür vorgesehen, dass Lettinnen und Letten, die im Ausland leben, ebenfalls Hundertjähriges feiern können. Gleichzeitig steigt allerdings der moralische Druck: das Lettische Institut (von der Zielsetzung vergleichbar mit dem deutschen Goethe-Institut) startete jetzt eine Kampagne "Wir wollen Dich zurück" ("#GribuTeviAtpakaļ"). Lettinnen und Letten sollen im Ausland lebende Freunde und Bekannte mit dieser "emotionalen Botschaft" deutlich machen: ihr seid uns wichtig, Lettland ist immer eure Heimat.
Gleichzeitig tauchen Berichte in der lettischen Presse speziell zu Politikerkindern unter der Überschrift auf "diese wollen nicht zurück". Die Zeitschrift "IR" zählt Beispiele auf: Gints Kučinskis, Sohn des lettischen Ministerpräsidenten, studierte Physik und arbeitet in Deutschland. Nein, er habe seinen Sohn nicht gedrängt, zurückzukommen, sagt der Pappi und Regierungschef; er wisse, wie schwer es Naturwissenschaftler in Lettland haben, an gut bezahlte Projekte zu kommen.
Sintija Brigmana, Tochter des Fraktionschefs der Bauernpartei und der Grünen, August Brigmanis, studiert schon seit sie 16 Jahre alt war in Großbritannien. Sie komme aber regelmäßig zu Besuch, antwortet Brigmanis, und es reiche schließlich nicht einfach zu sagen "komm zurück" - es müsse auch ein guter Job, Kindergarten, Schule und Internetzugang sein (sagt ein schon jahrelang als Abgeordneter tätiger Mensch).
Auch die beiden Kinder von Lettlands langjährigem EU-Kommissar Andris Piebalgs, Alise und Anete, leben im Ausland (in Österreich und Großbritannien) und arbeiten beide für große Unternehmen, die keine Niederlassungen in Lettland haben.
Vorerst scheinen also moralische Empörung und persönlicher Realismus noch zwei verschiedene Dinge zu sein. Wird Lettland nach 4 Jahren Dauerfeier anders aussehen?

1 Kommentar:

Michael v. Grotthuss hat gesagt…

Hatte die EU einen Fehler gemacht, als sie Lettland zwang, die Sprach- und Geschichtstests für „Nicht-Bürger“ (in ihrer Mehrzahl sind dies ethnische Russen) zu entschärfen? – So unsensibel das war, so vernünftig war das auch angesichts des massiven russischen Bevölkerungsanteils. Wie hätte die EU konstruktiv eingreifen sollen? Nun, ganz einfach durch Förderung von Schulen, an denen Lettisch die Unterrichtssprache ist. Zugleich hätte man deutsche und englische Lehrkräfte zur Unterrichtung der jeweiligen Fremdsprache in notwendiger Zahl abordnen sollen. Lehrfähigkeit in mehreren Fächern bei gleichzeitigem Vorhandensein von guten Kenntnissen der lettischen Sprache hätte ein Auswahlkriterium sein können. Faktisch wurden die Mittel für das Goethe-Institut in den letzten acht Jahren drastisch gekürzt. Das ließe sich revidieren und das muss revidiert werden.
Hatte Lettland einen Fehler gemacht, als sie den Lockungen der Nato folgte, fremde Truppen ins Land ließ und damit eine Drohkulisse gegenüber Rußland aufbaute? – Ich meine ja und setze hinzu, dass die von USA ausgelösten und von der EU dann geforderten Embargomaßnahmen gegen Rußland ein „Schuss ins eigene Knie“ waren. Nicht nur Handel und Wirtschaft leiden dadurch, sondern letztendlich auch die politischen Beziehungen zum immer noch nahen, aber relativ friedlichen Imperium. Auch dies ließe sich revidieren, aber dazu bedürfte es des Einverständnisses der Länder Estland und Litauen. Das ist schwierig zu erreichen, denn jedes Land der drei baltischen Staaten grenzt sich penibel vom Nachbarn ab. Sie nehmen sich seit ihren Beitritten als Konkurrenten der Fördertöpfe wahr. Wann werden diese drei Ostseeanrainer sich endlich gemeinsam in ihrem gemeinsamen Interesse gegenüber der EU äußern? Gerade Estland und Lettland liegen in Europa recht nahe an der Spitze der IT-Nutzung und der IT-Sicherheit; ein Pfund, mit dem sie wuchern sollten!