17. März 2015

Wen feiern, gedenken, betrauern oder ehren?

Immer wieder Nachrichten wie gewohnt: am 16.März finden sich in der lettischen Hauptstadt Riga jedes Jahr Menschen zu einem Gedenkmarsch an lettische SS-Einheiten zusammen. Auch in diesem Jahr fand er statt - bei näherem Nachdenken könnte aber auch der 17.März gefeiert werden, und vielleicht wäre das auch der Mehrheit der Lettinnen und Letten recht. Warum?

Angeblich geht es ja, wie auch Teilnehmer dieser Gedenkmärsche betonen, nicht um die Wiederbelebung faschistischer Ideologie. Von lettischer Seite meint man das schon seit sowjetischen Zeiten zu kennen: alle die sich für eine Erneuerung des unabhängigen Lettland einsetzten und sowjetideologisch offensichtlich nicht "auf Linie" gebracht werden konnten, wurden pauschal als "Faschisten" verdächtigt und diffamiert.
Nun geht es beim 16.März allerdings tatsächlich um SS-Einheiten, die gegen Ende des Kriegs von den Nazis zusammengestellt wurden nach dem Motto: entweder Zwangsarbeit oder SS. Zu sehr hatte die Nazi-Selbstgewiss- und Siegesgewissheit gelitten, und unter den Letten verbreiteten sich Gerüchte über Strategien, die es angeblich möglich machen sollten, das unabhängige Lettland wiederzuerrichten. Nicht unmittelbar zusammen hängt das mit denjenigen Letten, die vorher beim Judenmord mitgemacht hatten - auch davon liefen einige, wie der berüchtigte Viktors Arājs, mit dem SS-Abzeichen herum. Nein, es geht wohl in Lettland immer noch um eine "Rettung soldatischer Ehre", einer Darstellung von tapferen Menschen mit edlen Zielen, gezwungen in fremde Soldatenröcke.

Auch in Deutschland wollte es ja in den Nachkriegsjahrzehnten zunächst niemand glauben: Kriegsverbrecher, Mörder und Sadisten genossen ein gedeihliches Umfeld, überall im Nazi-System, also auch in der Armee. Gegendemonstrationen in Riga am 16.März wird gern vorgeworfen, "lettische Soldaten erniedrigen" zu wollen. Nun ja, die meisten sind ja froh, dass der Krieg vorbei ist, noch mehr froh sind diejenigen, die das Glück hatten ihn gesund zu überleben. Aber warum besinnt sich Lettland nicht anderer Ereignisse, die eindeutiger bezeugen, dass 1945 zumindest kaum jemand den einen Diktator herbeisehnte, als der andere verjagt war?

Ein stärkeres Gedenken an den 17.März würde ganz andere Schwerpunkte setzen. Im Jahr 1944 unterzeichneten an diesem Tag 189 Unterstützer ein Memorandum für ein freies, unabhängiges Lettland. Verfasser war ein "Lettischer Zentralrat" (Latvijas Centrālo Padomi), der am 13.8.1943 aus Mitgliedern der größten vor dem Krieg existierenden lettischen Parteien gebildet worden war. Der Entwurf soll aus der Feder von Konstantīns Čakste und Fēliks Cielēns stammen.
Die reale Existenz eines solchen Memorandums kann erst seit dem 2001 konkret bewiesen werden, als das Original dieses Papiers, mit allen Unterschriften, beim Renovieren eines Hauses in der Peldu iela 19 unter Bodendielen versteckt gefunden wurde. Eine Zeitlang hatte hier Valija Vaščunas-Jansone gewohnt, deren Mann einer der Unterzeichner des Memorandums war.
Am 30.November 2009 wurde das Dokument in das Lettische Register des UNESCO-Programms „Memory of the World” aufgenommen.

Eine der Seiten des
LCP-Memorandums
Auch die Unterzeichner/innen dieses Memorandums wünschten sich keineswegs die Sowjetarmee als "Retter" herbei. Sie bezeichneten es vielmehr als dringlichstes Ziel einer neuen lettischen Regierung, deren erneuten Einmarsch zu verhindern und mit allen Staaten partnerschaftliche Beziehungen aufzubauen, welche die Unabhängigkeit Lettlands anzuerkennen bereit seien. Außerdem war man bereit, den Nachbarländern Estland und Litauen die Bildung einer "Konföderation baltischer Staaten" vorzuschlagen.
Ob allerdings General Rudolfs Bangerskis die geeignete Person war, dieses Forderungspapier irgendwem weiterzureichen - da verbinden sich dann doch wieder die Illusionen des 16.und des 17.März, auch bei den möglicherweise Edelmütigen. Bangerskis war SS-Gruppenführer und als Generalleutnant der Waffen-SS Generalinspektor der Lettischen Legion. Bestenfalls also ein weiteres Zeichen dafür, dass andere starke Partner in dieser Zeit nicht zur Verfügung standen.
Konstantīns Čakste wurde am 29.April 1944 von der Gestapo verhaftet und gemeinsam mit einigen anderen Unterzeichnern des Memorandums ins KZ Salaspils verbracht, später ins KZ Stutthoff bei Danzig. Čakste starb am 21.Februar 1945 auf einem Gewaltmarsch als die Insassen Richtung KZ Lauenburg transportiert werden sollten. Fēliks Cielēns gelang die Flucht nach Schweden und starb 1964 in Stockholm.

Immerhin 90 Menschen erinnerten heute, am 17.März 2015, in Riga an das LCP-Memorandum (Latvijas Avize). Ihre Devise: "Von den Unterzeichnern können wir lernen uns auch in schwierigen Zeiten selbst zu behaupten."

Text des LCP-Memorandums (in deutscher Übersetzung)
UNESCO-Informationen zum Thema

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