Nun soll alles anders werden. Lettland hat für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft, und viele Lettinnen und Letten merken das zunächst mal daran, dass ein großer Teil der gerade frisch eröffneten Nationalbibliothek nun wieder geschlossen ist: die Räume werden für Konferenzen und Seminare im Rahmen der EU-Präsidentschaft genutzt. "Früher waren Bibliotheken Werkstätten der Wissenschaft - heute sind sie offenbar für Empfänge, Cocktailparties und Hipster mit ihren Smartphones gedacht, dazu kommt eindrucksvolle Architektur" schreibt der Philosoph und Sozialanthropologe Haralds Matulis, zu lesen beim Portal "satori.lv". Sein Resumee: "Zur Zeit eher ein Ort für Designer und Public-Relation-Profis."
Argumente gegen das "muss-denn-das-sein?": Auszug aus dem lettischen EU-Präsidentschafts-Werbefilm |
Zumindest für die kommenden Wochen wird dieser Eindruck wohl unabänderlich sein. 1140 Beamte und Angestellte sind nach Angaben der lettischen Präsidentschaft mit der Umsetzung dieser sechs Monate direkt beteiligt, dazu kommen etwa 100 Praktikantinnen und Praktikanten. Etwa 1500 verschiedene Konferenzen werden im ersten Halbjahr 2015 in Brüssel stattfinden, zusätzlich etwa 200 in Lettland (alle verschiedenen Arbeitsgruppen zusammengenommen, soll die Gesamtzahl der Zusammenkünfte 427 betragen). Da wird das Präsidentschafts-Logo, das im Sinne der Macher als "Symbol der geschichtlichen Wurzeln und der Anfänge der Zivilisation" fungieren soll, auch schon mal assoziativ zum "Mühlstein der Bürokratie".
Dem Kostenargument wollte die lettische Regierung gleich zu Beginn begegnen, und rechnete vor: 64.5 Millionen Euro Gewinn werde die EU-Präsidentschaft einbringen, da sie zu gesteigertem Steuereinkommen, positiven Effekten im Tourismus, und gesteigerter Effektivität der staatlichen Angestellten führen (siehe es2015.lv). Ein anderer kritischer Einwand könnte sich darauf beziehen dass Lettland sich durch die EU-Ratspräsidentschaft auch mehr "lettische Farben" bei Entscheidungen erhoffe.
"Blockierter Straßenverkehr in Riga, 100 Millionen Euro Kosten und Illusionen in Bezug auf mehr Einfluß", so skizziert es Astrīda Bomis in einem Kommentar für "Kas Jauns" und fügt ironisch hinzu: "Zeigen wir der EU, dass wir einen Fünfjahresplan auch in sechs Monaten verwirklichen können!". Oder ist es eher Sarkasmus, wenn Bomis ergänzt, dass sich der Aktionsplan der EU gegen die Jugendarbeitslosigkeit bisher ja nur in der Ermöglichung billiger Flugreisen erschöpfe (in die Länder, wo dann lettische Jugendliche doch noch Arbeit finden). In der EU bleibe es wie bisher: große Länder wie Frankreich, Deutschland Großbritannien bestimmen die Richtung, und die Präsidentschafts-Ehre entlaste nur ein wenig die Brüssler Bürokraten ohne diese Systematik zu ändern. Zudem seien damit eben ausdrücklich keine Lösungen der innenpolitischen Probleme verbunden, auch wenn diese mit der EU in Zusammenhang stünden, so die Journalistin.
Kultur als Prestige-potential
Die lettische EU-Ratspräsi-dentschaft versucht auch, in der ersten Jahreshälfte kulturelle Schwerpunkte in anderen EU-Staaten zu setzen. Im Ergebnis pro Land wird es zahlenmäßig nicht viel sein, aber was im eigenen Land ja vielleicht so wirken könne, "nicht nur für Bürokraten" etwas zu tun, bietet offenbar die Möglichkeit die (vermutete?) gesellschaftliche Elite der betreffenden Länder auch mal zum Konzert oder ins Theater einladen zu können. In Deutschland werden dies Auftritte der SINONIETTA RIGA in Frankfurt, Hamburg und München sein, im Mai wird dann die Oper "Valentina" als Gastspiel in Berlin auf die Opernbühne gebracht - allein diese Aufführung der Lettischen Nationaloper kostet 405.000 Euro (siehe LSM). Durchschnittlich 25.000 Euro lasse sich Lettland jedes Gastspiel-Event kosten, rechneten die lettischen Medien nach (lsm) - sogar in Peking möchte Lettland in dieser Zeit mit einer Ballett-Aufführung präsent sein.
Selga Laizāne, im Präsidentschafts-Sekretariat zuständig für das Kulturprogramm ist überzeugt, dass sich diese Ausgaben auszahlen werden: "Das wird alles zusammen mit den jeweiligen Aussenministerien organisiert, hochrangige Beamte. Es ergibt also einen kulturellen und auch einen politischen Sinn."(lsm)
Alles neu - macht der Mai? (oder alles bleibt dabei?)
Auch Sicherheitsbedenken gab es auf lettischer Seite. Einige äussern Sorge, es könne wieder zu "Cyberattacken" kommen, also von Hackern absichtlich verursachte Störungen der Internet-Kommunikation. Zu einem aussenpolitischen "Knackpunkt" der internationalen Beziehungen könnte auch der 9.Mai werden - der in Moskau als 70.Jahrestages des Kriegsendes und "Sieg über den Faschismus" gefeiert wird. Der estnische Präsident Ilves und seine litauische Kollegin Grybauskaite sagten ihre Teilnahme bereits lautstark ab, noch bevor die Einladungen richtig versandt waren. Der Lette Andris Bērziņš hält sich in dieser Frage bisher bedeckt - vielleicht auch mit Blick auf die lettische EU-Präsidentschaft - und muss sich derzeit Spekulationen aussetzen, ob der nächste lettische Präsident nicht lieber vom gesamten Volk gewählt werden sollte. Die Wiederwahl (für weitere vier Jahre) wäre zwar möglich, doch dafür können sich bisher nur die "alten Freunde" aus der Bauernpartei (ZZS) erwärmen. Noch 2010 war Bērziņš auf der Liste der ZZS zur Parlamentswahl angetreten (und in Zemgale direkt nach Parteichef Brigmanis auch gewählt), bevor er dann 2011 zum Präsidenten gewählt wurde. Seine Amtszeit endet in wenigen Wochen, für den Sommer steht auch die Präsidentschaftswahl an (= in Lettland bisher eine Wahl durch das Parlament).
Nun, vorerst müssen Lettinnen und Letten wie auch Einwohner Rigas wahrscheinlich die EU-Präsidentschaft wirklich an Verkehrsstaus und Preissteigerungen messen - der Glanz des gelungenen Kulturhauptstadtjahrs ist vorbei. Am Image "mitten in Europa angekommen" bastelt Lettland noch.
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