6. Dezember 2005

Im Ausland arbeiten, zu Hause explodieren die Preise

Lettland ist stolz auf seine Statistiken. Mit momentan 11,6% Wirtschaftswachstum nimmt Lettland im Moment den Spitzenplatz in der Europäischen Union ein - das melden Fachmagazine wie das Wirtschaftsblatt (8.11.2005) Dasselbe Magazin beschreibt aber auch eine Inflationsrate von 7,2% - ebenfalls europaweit ein Höchstwert. Wo kommen diese Probleme her? Gefährdet diese Entwicklung die 2007/2008 geplante Einführung des Euro?

Wirtschaftswachstum - aber nicht zu Gunsten aller Beteiligten
"Die alten EU-Länder werden neidisch", hatte noch im Mai 2005 die Deutsche Welle angesichts der beeindruckenden Zahlen zum Wirtschaftswachstum in Lettland berichtet. Inzwischen mischen sich andere Stimmen in diesen Chor. Jungle World zitiert einen Slogan von einer Demonstaration lettischer Gewerkschaften in Riga: "Im Vergleich zu den übrigen EU-Staaten ist unsere soziale und wirtschaftliche Lage düster: die höchste Inflation, die geringsten Gehälter und Renten und das am schnellsten aussterbende Land."

Nur 320 Euro beträgt der lettische Durchschnittslohn. Der Mehrwertsteuersatz von 18 Prozent gilt auch für Lebensmittel. Gerade Geringverdiener leiden unter dem stetigen Preisanstieg. Und die Einkommenssteuerrate von 25% gilt auch für Kleinverdiener - nur Summen unter 40 Lat Verdienst bleiben verschont. Arbeitssuchende verlassen zu Tausenden das Land - um in Ländern wie Irland, wo Arbeitskräfte gesucht werden, kurzfristig ihr Glück zu suchen.

Gut ausgebildete Fachkräfte - bereits auf der Flucht?
In Lettland selbst priesen ausländische Investoren noch bis vor kurzem das "hochqualifizierte und motiviertes Personal" (Deutsche Welle 19.5.05) Die neue Konjunkturumfrage 2005 der Deutsch-Baltischen Handelskammer bringt bereits einige neue Tendenzen. Gute Gesamtkonjunkturlage, Steigerungen des Umsatzes gegenüber 2004 bis zu 20% scheinen positiv - aber bereits die Hälfte der Befragten sieht durch Abwanderung von Arbeitskräften (als Nachteil der EU-Osterweiterung) mittelfristig einen Mangel an Fachkräften in Lettland voraus.
Gefragt nach den Motiven für Investitionen in Lettland geben 65% der deutschen Firmen gegenwärtig noch das "gute Ausbildungsniveau" als Grund an (niedrige Arbeitskosten übrigens nur 44,2%). An der Ausbildung liegt es also weniger - aber die Leute suchen sich den Mehrverdienst gegebenenfalls in anderen Ländern, wo sie Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dennoch scheinen Abwehrreaktionen großer EU-Staaten übertrieben - die Probleme für Lettland selbst sind die weitaus entscheidenderen.

Auswärts arbeiten gehen löst zu Hause die Sorgen nicht
Das Geld, was Letten im Ausland verdienen, facht die Inflation im eigenen Land an - diese Schlagzeile brachte LETA am 6.12.05. Auf mindestens 20 Millionen Lat jeden Monat (ca. 30 Millionen Euro) schätzt LETA die Summe Geldes, das auf diesem Wege nach Lettland fließt. Die lettische Nachrichtenagentur vergleicht den ökonomischen Effekt, den diese Arbeitsemigranten im eigenen Landes auslösen, mit dem Einfluß von Touristen aus reichen Ländern: eine bestimmte Schicht von Kunden kann sich eben steigende Preise leisten. Zitiert wird die Chefanalystin Liene Kule von "Hansabanka", deren Worten zufolge eben solche Effekte zum "Konsumboom" in Lettland - und damit zur Inflation - beitragen. Ein großer Teil des ins Land fließenden Geldes wird eben nicht investiert, sondern für Konsumwaren ausgegeben.
LETA zitiert aber auch andere Stimmen, wie den lettischen Ökonomen Janis Aboltins. Dieser hofft, dass die "heimkehrenden Letten eben Häuser bauen, Dienstleistungen brauchen, und damit auch den einheimischen Markt beleben." "Aber," so gibt auch er zu, "der lettische Markt ist klein, und durch fehlenden Wettbewerb bleiben eben in manchen Bereichen die Preise auf hohem Niveau."

Auf der Suche nach Gründen
Europäische Wirtschaftsfachleute, wie zum, Beispiel das European Business Network, schoben bisher den Preisanstieg in der Europäischen Union bisher eher die gestiegenen Energiepreise. Auch in Lettland brachten die Medien einige Wochen ständig neue Meldungen über klagende Autobesitzer. Schon überlegten Sparsame, sich Billigbenzin aus Weißrussland auf dem illegalen Markt zu besorgen.

Blair ohne Verständnis und Interesse für die baltische Perspektive
Nun kommt noch "Onkel Blair", in seiner Funktion der EU-Präsidentschaft daher und schlägt mal eben eine drastische Kürzungen der Gelder aus Brüssel vor (für Lettland würde es minus 8% bedeuten). Das würde vor allem die Regionalentwicklungsprogramme in Lettland stark treffen.
Hans-Gert Pöttering, Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) im Europaparlament, äussert im Deutschlandfunk Verständnis für die ablehnende Haltung der baltischen Staaten zu solchen Vorschlägen. "Unakzeptabel für Lettland" - mit dieser klaren gegenüber LNT geäusserten Stellungnahme weiss sich auch der lettische Regierungschef Kalvitis einig mit seinen Amtskollegen von Estland bis Polen.

So zeigen sich in Lettland - trotz positiver Wirtschaftsentwicklung - gegenwärtig immer noch zwei Seiten (der Medaille). Es gibt sogar Gerüchte, dass einige Firmen in Lettland billige Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern Osteuropas oder Asien ins Land holen wollen. Falls nichts dafür getan wird, dass gut ausgebildete lettische Fachleute auch angemessen bezahlte Arbeit im eigenen Lande finden - eine gruselige Persektive.

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