19. Dezember 2005

Präsidentin, Frau, Europäerin, Persönlichkeit - ein lettischer Gast in Bremen

Es waren festliche Momente im Rathaus der Freien und Hansestadt Bremen, und ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit und Ehrung für lettische Belange: Präsidentin Vaira Vike-Freiberga empfing am 16.12.2005 "im Namen vieler Landsleute", wie sie selbst sagte, den Hannah-Arendt-Preis 2005.
Ralf Fücks (im Bild rechts) und Bremens neuer Bürgermeister Jens Böhrnsen zeigten sich beeindruckt von der Lebensleistung und dem Mut zu entschlossen demokratischem Handeln, für den Vike-Freiberga inzwischen auch international bekannt ist.

"Bisher war der Name Hannah Arendt in Lettland vielleicht nicht so bekannt. Das wird sich, nach dieser Veranstaltung hoffentlich ändern," so Vike-Freiberga selbst. Wie Hannah Arendt hatte auch Vike-Freiberga viele Jahre im politischen Exil leben müssen. Aus der Rahmenveranstaltung, einem zweistündigen Symposium im Bremer "Haus der Wissenschaft" am Nachmittag des gleichen Tages, wurde deutlich, dass sich Vike-Freiberga intensiv mit Leben und Werk verschiedener Denker und Philosophen auseinandergesetzt hat. Aber: "Es ist schon ein wenig paradox, dass ich gerade einen Preis für politisches Denken bekomme", sagte sie auch. "Einen großen Teil meines Lebens habe ich mich der Wissenschaft gewidmet, und nicht der Politik."

Neber der lettischen Präsidentin wirkten so manche anderen blass. Auch Prof. Wolfgang Eichwede, bekannt von seiner Arbeit bei der Bremer Forschungsstelle Osteuropa, ausdrücklich als "Russlandkenner" vorgestellt, brachte ausser allgemeinen abstrakten Theorien zu Europa trotz Nachfrage kein einziges Wort zur lettischen Rolle Lettlands in diesem europäischen Kontext über die Lippen. Europa sei das Europa verschiedener Identitäten - wurde der Präsidentin vorgehalten. Mit der Perspektive der lettischen Identitätsfindung hatten sich die Podiumsteilnehmer sichtbar wenig befasst.

Zwischen den verschiedenen Terminen war kurz Zeit gewesen für einen Besuch im Bremer Roselius Haus. Dort befinden sich seit 1987 Teile des historischen Silberschatzes der "Compagnie der Schwarzen Häupter aus Riga" als Dauerleihgabe. Darauf hingewiesen, dass sich die inzwischen im fortgeschrittenen Alter befindlichen Mitglieder dieser ehemals in Riga ansässigen deutschbaltischen Vereinigung auch heute noch, Jahr für Jahr, treffen und aus dem edlen Geschirr ein Schlückchen trinken, kam nur ein präsidial-höfliches "Ach ja, tatsächlich?" als Antwort. - Weniger höflich war die Reaktion der deutschbaltischen Altherren gewesen, als die Partnerstadt zur Feier des 800-jährigen Geburtstags die 34-teilige Geschirrsammlung für kurze Zeit auch einmal in Riga hatte ausstellen wollen. Ein kathegorisches und scheinbar kompromißloses "Nein" war damals den lettischen Kulturpartnern entgegengedonnert (siehe entsprechende Presseberichte).

Damit verglichen, ging es Frau Präsidentin in Bremen diesmal hervorragend. Im großen Festsaal des Rathauses drängten sich die Gäste, und die Gastgeber hielten kluge Lobreden auf die mutige Frau aus dem baltischen Land. Marianne Birthler, Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, brachte Gedanken aus ostdeutscher Sicht ein, und lobte wie auch Ralf Fücks und Prof. Antonia Grunenberg die politische Weitsicht von Vike-Freiberga, entschlossen und nicht politisch einäugig für politische Selbstbestimmung auch gegenüber imperialen Großmächten zu streiten.

Wie spiegelte sich das Ereignis in der Presse?
Die TAZ nahm Vike-Freiberga als "unerschrockene Zwischenruferin" wahr, und streicht dabei heraus, dass der Pragmatismus, der für ihr Denken und Handeln charakteristisch ist, möglicherweise ja im Exil erworben wurde. Die regionale "Syker Kreiszeitung" stellt Lettlands Zielrichtung in der EU als "Projekt der Freiheit" heraus, und zitiert ansonsten einen Satz zum Haushaltsstreit in der EU: Die Solidarität der Etablierten mit den Neuen schmelze nun wie "Schnee in der Sonne."
In der lettischen Presse stellt DIENA kurz Leben und Werk von Hannah Arendt vor, und zitiert einen Teil der Juryentscheidung, nach der Vike-Freiberga "mutig schwierige Probleme des 20.Jahrhunderts angesprochen" habe. Die LATVIJAS AVIZE druckt sogar in ihrer Ausgabe vom 19.12. eine leicht gekürzte Fassung der Rede Vike-Freibergas vom 16.12. im Bremer Rathaus ab.

Die übrige deutsche Presse greift vorwiegend Vike-Freibergas erneute Bemerkungen zum deutsch-russischen Deal der Ostseepipeline - der Ex-Kanzler Schröder einen so hervorragenden neuen Posten brachte - auf. Auch nach ihrer Einstellung zur neuen deutschen Kanzlerin war Vike-Freiberga in Bremen häufig befragt worden. "Die Neo-Kanzlerin sammelt politischen Ruhm, der Ex-Kanzler verspielt ihn", so schreibt es DIE PRESSE. Was Schröder gemacht habe, widerspreche "allen demokratischen Standards", so zitiert auch N-TV die lettische Präsidentin. Die BERLINER ZEITUNG und der Bremer WESERKURIER warten mit kurzen Exklusivinterviews auf. "Ich war nicht überrascht", so wird Vike-Freiberga in der BERLINER ZEITUNG zitiert, "wenn man unter allen Routen ausgerechnet die mit Abstand teuerste wählt, dann ist das eine politische Entscheidung". - "Wir reden oft über die Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik - sei es gegenüber Russland oder Iran. Diese kann nur in einem intensiven Dialog zwischen den EU-Mitgliedern geformt werden."

In der Sonntagsausgabe des WESERKURIER (18.12.) sind dann noch diese überraschend offenen Sätze zu lesen: "Es wird eine sehr viel sympathischere Haltung von Frau Merkel gegenüber den baltischen Staaten geben als unter der Schröder-Regierung. In den ersten Regierungsjahren war Schröder auch sehr freundlich, später aber ist er anders geworden . . . "

(Der Wortlaut der verschiedenen Reden, die Vaira Vike-Freiberga in Bremen aus Anlass der Verleihung des Hannah-Arendt-Preises gehalten hat, ist übrigens auf den Seiten der Kanzlei der lettischen Präsidentin sowohl in deutscher wie in lettischer Fassung downloadbar.)

18. Dezember 2005

Verfassungsstreit um Gleichgeschlechtliches

Lettland in der Vorweihnachtszeit. Noch sind nicht alle politischen Fragen geklärt. Ein paar Tage - bis zum 20.Dezember - hat Präsidentin Vike-Freiberga noch Zeit, eine vom lettischen Parlament (Saeima) beschlossene Verfassungsänderung durchzusehen und eventuell erneut zur Überarbeitung an das Parlament zurückzuverweisen.

Turbulenzen um die "Homos"
Worum geht es? Wie schon vor einigen Monaten auf dieser Seite geschildert, erschütterte am 23.Juli 2005 eine "Schwulen- und Lesbendemo" die Haupstadt Riga. Skandalös war dabei eigentlich wenig - ähnliche Demonstrationen und Kundgebungen gibt es überall, es waren nur wenige Teilnehmer/innen angesagt. In Ländern wie etwa Polen werden solche Veranstaltungen regelmäßig verboten, in anderen, wie dem Nachbarland Estland, finden sie beinahe ohne öffentliches Aufsehen statt.
Das Thema wurde jedoch zum Zankapfel der lettischen Parteien. Der stellvertretende Bürgermeister Rigas, ein Mitglied der "Pirma Partija" / "Erste Partei" (der sogenannten "Priesterpartei"), trat später zurück, weil seine im Stadtrat mitregierungende Partei die Veranstaltung NICHT verhindern konnte. Ein Priester der anglikanischen Kirche, der sich als homosexuell outete, und der den Veranstaltern einen Gottesdienst in seiner Kirche erlaubt hatte, wurde aus der lettischen evangelischen Kirche entlassen (Meldung der Nachrichtenagentur LETA vom 16.11.05). Und weitere in Führungsämtern der lettischen evangelischen Kirche tätigen Priester scheuten sich weder, der lettischen rechtsradikalen Zeitung DDD ein Interview zu geben, noch dort dann die Isolierung aller Homosexuellen in speziellen Krankenhäusern zu fordern (DIENA vom 8.12.05).

Populistischer Wahlkampf
In Lettland bahnt sich langsam der Parlamentswahlkampf 2006 an. Erstaunlich, wie gewandt sich die politischen Stehaufmännchen in der "Pirma Partija" immer wieder neue Strategien der Macherhaltung ausdenken. Parteichef Slesers, vorwiegend durch Gelder norwegischer Industriekapitäne in Lettland zu Macht und Einfluß gepuscht, wird immer wieder als Möchtegern-Regierungschef gehandelt. Als zuletzt die Umfragewerte dramatisch sanken, zelebrierte man plötzlich eine Vereinigung mit der beinahe in der Versenkung verschwundenen "Latvijas Cels" ("Lettlands Weg" - LC), die in den 90er Jahren vielfach an Regierungen beteiligt, inzwischen aber nicht mehr allein über die 5%-Hürde gekommen war. Einige idealistische LC-Wähler wird es verschreckt haben, mit wem sich da die Parteioberen verständigt haben, aber lettischer Wahlkampf war seit 1991 schon oft eine Inszenierung des Machterhalts alt Bekannter unter scheinbar neuen Vorzeichen.

Unmoralische Priester?
Gibt es Priester, die nicht allen Menschen gleiche Rechte einräumen wollen - obwohl diese doch laut Bibel "vor Gott gleich" gelten sollten? Wenn ja, dann gehen sie wohl in Lettland in die Politik. Die "Pirma Partija" macht mit dem Thema "Rettung der christlichen Ehe" Wahlkampf. Stolz präsentierte man 12.000 Unterschriften für eine im Parlament eingebrachte Verfassungsänderung. Den Eingang von zwei Protestbriefen, einer davon von der lettischen Vereinigung der Schwulen und Lesben ILGA LATVIJA, präsentierte man ebenfalls öffentlich, und erhoffte sich dadurch wohl ebenfalls eher zusätzliche Bestätigung beim eigenen Klientel.

Bisher lautete der Absatz 110 der lettischen Verfassung: "Valsts aizsargā un atbalsta laulību, ģimeni, vecāku un bērna tiesības." (der Staat schützt und unterstützt die Ehe, die Familie, die Eltern und die Rechte der Kinder). Am Donnerstag, den 15.12.2005, wurde dieser Absatz mit 73 von 100 Stimmen vom lettischen Parlament wiefolgt geändert: "Valsts aizsargā un atbalsta laulību - savienību starp vīrieti un sievieti, ģimeni, vecāku un bērnu tiesības." (der Staat schützt und unterstützt die Ehe - die Vereinigung zwischen Mann und Frau -, die Familie, die Eltern und die Rechte der Kinder.)
"Lettland verbietet Homo-Ehe" titelte eilfertig einen Tag später DIE WELT. Streng juristisch stimmt das nicht ganz: gesagt wird nur, dass der Staat etwas anderes als die traditioneller Ehe weder schützt noch unterstützt. Jedoch auch Gegner des Gesetzentwurfs sagen selbst, dass nach Artikel 35.2 des lettischen Zivilrechts gleichgeschlechtliche Ehen auch bisher schon unzulässig sind. Dennoch hat man sich nun in aller Eile zusammengeschlossen, um die lettische Präsidentin zur Ablehnung des Gesetzes zu bewegen: "Gegen Homophobie in Lettland" heisst nun der Slogan dieser Initiative.

Hin und Her im Parlament
Die Tageszeitung DIENA schildert in ihrer Ausgabe am 16.12. die Abstimmungsvorgänge im Parlament anders: "Abgeordnete hatten Angst vor gleichgeschlechtlichen Ehen". Zitiert werden dort auch die Bedenken nicht nur von Staatspräsidentin Vike-Freiberga, sondern auch von Regierungschef Kalvitis, Justizministerin Aboltina und der Vorsitzenden der Menschenrechtskommission des Parlaments, Ingrida Circene. Dennoch wagten es nur sechs der Abgeordneten in der entscheidenden Abstimmung, gegen den Änderungsvorschlag zu stimmen. Darunter habe sich auch der Abgeordnete Andris Kaposts von der "Fraktion der Grünen und Bauern" (ZZS) befunden, der aber später erklärte, er habe bei der Abstimmung "die Knöpfe verwechselt". ZZS-Fraktionschef Brigmanis zitiert DIENA doch wirklich mit dem Satz: "Kaposts ist ein Mann vom Lande, der ist weit von Cesis gefahren, da macht er schon mal Fehler." (!)
Neun Abgeordnete enthielten sich, und acht erschienen lieber erst gar nicht zur Abstimmung - werden doch in Lettland oft auch alle Namen der Pro- oder Contra-Stimmenden schon mal in den Zeitungen veröffentlicht. Lieber abtauchen, als gegen den populistischen Strom schwimmen, scheint hier das Motto.


Ob der ganze Wirbel, der nun auch international mit dem Vorgang bereits erzeugt wurde, wirklich nur den Zielen nützt, den die Verfassungs-Änderer im Sinn hatten? Ein wenig scheint es, dass auch die Schwulen und Lesben Lettlands - obwohl an Zahl und Einfluß bisher kaum bemerkbar - noch eine Weile in der Diskussion bleiben werden. Ein paar Monate wird noch Wahlkampf sein. Auch am 23.Juli 2006.

8. Dezember 2005

Gestatten, Frau Präsidentin, Ihr Preis ...

Lettlands Parteienlandschaft hat keinen guten Ruf. Heillos zerstritten, selbstsüchtig, ohne große Bindung an ideelle Ziele. Hinzu kommt, dass westeuropäische Politologen und Journalisten in der Regel den sogenannten "ehemaligen Sowjetstaaten" nicht sehr viel zutrauen, was eigenständiges Denken angeht. So gelten auch die Lettinnen und Letten als entweder "von der Sowjetzeit verformt" oder als "naiv dem kapitalistischen Konsumrausch verfallen". - Vor diesem Hintergrund fällt es besonders auf, wenn eine in einer politischen Funktion befindliche Lettin geehrt wird - vor allem für ihre eigenständigen, zutiefst demokratischen Positionen und Gedanken, eintretend ausdrücklich für eine selbstbewußte Neupositionierung Lettlands auch in Europa.

Am Freitag, den 16.Dezember 2005 bekommt Vaira Vike-Freiberga, seit 1999 im Amt befindliche Präsidentin der Republik Lettland, im Bremer Rathaus den Hannah-Arendt-Preis verliehen. Aus der Presseankündigung der Veranstalter ist zu entnehmen, dass damit "eine Stimme und Position" geehrt wird, "die oft genug im Chor der dominierenden Mächte Europas untergeht." Vielleicht würde Vike-Freiberga gerne antworten: "So schnell wird Lettland nicht untergehen!" In vielen Reden hat sie im eigenen Land immer wieder versucht, Mut zuzusprechen, und gegen das teilweise weit verbreitete lettische Selbstmitleid anzureden, das angesichts des über die Jahrhunderte scheinbar dauerhaft schwierigen Schicksals des kleinen lettischen Volkes wenig Entwicklungschancen offen läßt - die dann den direkt Beteiligten oft nur wie sehr kleine, geduldige Schritte vorkommen mögen.

Doch nur selten gibt es auch für die oberste Repräsentantin dieses kleinen baltischen Landes die Chance der großen Medienaufmerksamkeit. Selten hören auch diejenigen mit der genügenden Aufmerksamkeit zu, die wenig über Lettland wissen. Gerade in Deutschland fielen eher die kumpeligen Männerfreundschaften Kohl-Gorbatschow oder Schröder-Putin auf, verbunden mit politischen Vorgehensweisen nach Gutsherrenart. Lettische Randbemerkungen, dass es gegenüber einem demokratischen Entwicklungsland wie Russland nicht reiche, diesem "schöne blaue Augen" zu machen, und auf politisches Wohlwollen zu hoffen, werden unbeachtet gelassen und manchmal sogar belächelt oder pauschal mit "Russen-Feindlichkeit" gleichgesetzt. Direkt am Rande des russischen Riesenreiches lebt es sich eben anders - mit eifernden nationalrussischen Funktionären im eigenen Land, die immer noch lauthals alle Letten pauschal als "Faschisten" verunglimpfen, ganz im Sinne der sowjetisch ideologisch zurechtgebogenen Geschichtsschreibung.

Auch unabhängig von der konkreten Lebensgeschichte von Hannah Arendt, wird doch der seit 1995 verliehene Preis vor allem mit dem Einsatz gegen totalitäre Regime, und mit eigenständiger, kluger, ein wenig eigenwilliger Denkweise gleichgesetzt. Da trifft es mit Vaira Vike-Freiberga sicherlich die Richtige. Schade nur, dass für die Stadt Bremen (mit Städtepartnerschaft zu Riga!!) und auch die beteiligte Heinrich-Böll-Stiftung der feierliche Anlaß nicht auch Gelegenheit ist, sich selbst wieder einmal mehr mit der lettischen Republik zu beschäftigen.

Die Zeiten, wo "Westler" den "armen Brüdern und Schwestern" auf der anderen Seite der Ostsee sagen mussten, wo es demokratisch lang geht, sind ja wohl (wenn sie jemals angebracht waren) vorbei. Für Lettland wichtige Zukunftsprojekte werden kaum mit deutschen Partnern entwickelt. Selbst bei Kooperationen von Firmen lagen lange Jahre eher die finnischen, schwedischen, asiatischen oder US-amerikanischen Firmen vorn. Auch die Bremer Forschungsstelle Osteuropa forscht lieber nicht über ganz Osteuropa, wie der Namen vermuten ließe. Man konzentriert sich lieber auf zwei, drei ausgewählte Themen und lässt Lettland dabei lieber als Partner aussen vor.
Auch die BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN nahestehende Heinrich-Böll-Stiftung hat sich schon seit Jahren aus konkreten Projekten mit möglicherweise gleichgesinnten Partnern in Lettland zurückgezogen.
Ob solche Zustände wohl beim geplanten, nur zwei Stunden kurzen Symposium am 16.12., kurz vor der Preisverleihung, überhaupt zur Sprache kommen werden?

Wesentlich bekannter ist in der deutschen Medienöffentlichkeit die hervorgehobene Stellung Vike-Freiberga's als Frau in einem höchsten Staatsamt. Als erste Frau in Osteuropa überhaupt, und heute noch als eine der ganz wenigen Frauen in Europa in politischen Führungspositionen (die auch seit 6 Jahren bereits im Amt ist und 2003 unumstritten wiedergewählt wurde!), wird ihr Name inzwischen in einer Reihe mit den bekanntesten Persönlichkeiten der ganzen Welt genannt. Einerseits aus Gründen, die bei vielen Frauenkarrieren eher charakteristisch sind, andererseits aber in ihrem Fall auch in dieser Hinsicht einzigartig: Sie zog zwei Kinder groß (siehe das Foto rechts, aus ihrer Zeit in Kanada - entnommen aus dem 2001 erschienenen Buch von Ausma Cimdina), sie schaffte gleichzeitig eine beachtenswerte wissenschaftliche Karriere, meisterte gemeinsam mit ihrem Mann eine langjährige Ehe, lernte mit Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch mehrere Sprachen fließend, und musste sich schon als junges Mädchen mit den Eltern in mehreren fremden Ländern durchschlagen.

Dann kam - seit dem 17.Juni 1999 (dem 59.Jahrestag der Besetzung der Republik Lettland durch die Rote Armee) - das Leben als lettische Präsidentin. Ist Lettland schlicht das Land der "starken Frauen"?? Wie anerkannt ist Vaira Vike-Freiberga im eigenen Land? Ist die Sicht von aussen (mit deutschen Augen) identisch mit der Sicht, die Lettinnen auf ihre Präsidentin haben? Wie geht es Frauen in Lettland in anderen Tätigkeitsfeldern, in der Wirtschaft, in der Kirche, in der Politik? Wie sieht es mit Frauen- und Männerrollen aus? Warum haben Frauen in Lettland eine so viel höhere Lebenserwartung als Männer?

Diese und andere Fragen möchte der Verein INFOBALT in Bremen zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung diskutieren. Aus Anlaß des Besuchs von Frau Dr. Vike-Freiberga in Bremen, aber leider - wegen ihres Termindrucks - ohne sie. Dennoch werden eine Reihe lettischer Frauen zusammenkommen, die selbst aus eigener Perspektive und Erfahrung erzählen können. Eingangs werden Filme gezeigt über Vaira Vike-Freiberga und über Frauen in Riga. Alle interessierten Gäste sind herzlich eingeladen.

Donnerstag, 15.Dezember 2005, ab 18.00 Uhr, im Haus der Bremer Landeszentrale für politische Bildung, Osterdeich 6, 28203 Bremen. Telefon dort im Haus am Veranstaltungstag: 0421 361-2507, Email: Guenther.Feldhaus@lzpb.bremen.de. Kontakt für weitere Fragen und Infos: post@infobalt.de oder Tel. 0162-9339191.

6. Dezember 2005

Im Ausland arbeiten, zu Hause explodieren die Preise

Lettland ist stolz auf seine Statistiken. Mit momentan 11,6% Wirtschaftswachstum nimmt Lettland im Moment den Spitzenplatz in der Europäischen Union ein - das melden Fachmagazine wie das Wirtschaftsblatt (8.11.2005) Dasselbe Magazin beschreibt aber auch eine Inflationsrate von 7,2% - ebenfalls europaweit ein Höchstwert. Wo kommen diese Probleme her? Gefährdet diese Entwicklung die 2007/2008 geplante Einführung des Euro?

Wirtschaftswachstum - aber nicht zu Gunsten aller Beteiligten
"Die alten EU-Länder werden neidisch", hatte noch im Mai 2005 die Deutsche Welle angesichts der beeindruckenden Zahlen zum Wirtschaftswachstum in Lettland berichtet. Inzwischen mischen sich andere Stimmen in diesen Chor. Jungle World zitiert einen Slogan von einer Demonstaration lettischer Gewerkschaften in Riga: "Im Vergleich zu den übrigen EU-Staaten ist unsere soziale und wirtschaftliche Lage düster: die höchste Inflation, die geringsten Gehälter und Renten und das am schnellsten aussterbende Land."

Nur 320 Euro beträgt der lettische Durchschnittslohn. Der Mehrwertsteuersatz von 18 Prozent gilt auch für Lebensmittel. Gerade Geringverdiener leiden unter dem stetigen Preisanstieg. Und die Einkommenssteuerrate von 25% gilt auch für Kleinverdiener - nur Summen unter 40 Lat Verdienst bleiben verschont. Arbeitssuchende verlassen zu Tausenden das Land - um in Ländern wie Irland, wo Arbeitskräfte gesucht werden, kurzfristig ihr Glück zu suchen.

Gut ausgebildete Fachkräfte - bereits auf der Flucht?
In Lettland selbst priesen ausländische Investoren noch bis vor kurzem das "hochqualifizierte und motiviertes Personal" (Deutsche Welle 19.5.05) Die neue Konjunkturumfrage 2005 der Deutsch-Baltischen Handelskammer bringt bereits einige neue Tendenzen. Gute Gesamtkonjunkturlage, Steigerungen des Umsatzes gegenüber 2004 bis zu 20% scheinen positiv - aber bereits die Hälfte der Befragten sieht durch Abwanderung von Arbeitskräften (als Nachteil der EU-Osterweiterung) mittelfristig einen Mangel an Fachkräften in Lettland voraus.
Gefragt nach den Motiven für Investitionen in Lettland geben 65% der deutschen Firmen gegenwärtig noch das "gute Ausbildungsniveau" als Grund an (niedrige Arbeitskosten übrigens nur 44,2%). An der Ausbildung liegt es also weniger - aber die Leute suchen sich den Mehrverdienst gegebenenfalls in anderen Ländern, wo sie Zugang zum Arbeitsmarkt haben. Dennoch scheinen Abwehrreaktionen großer EU-Staaten übertrieben - die Probleme für Lettland selbst sind die weitaus entscheidenderen.

Auswärts arbeiten gehen löst zu Hause die Sorgen nicht
Das Geld, was Letten im Ausland verdienen, facht die Inflation im eigenen Land an - diese Schlagzeile brachte LETA am 6.12.05. Auf mindestens 20 Millionen Lat jeden Monat (ca. 30 Millionen Euro) schätzt LETA die Summe Geldes, das auf diesem Wege nach Lettland fließt. Die lettische Nachrichtenagentur vergleicht den ökonomischen Effekt, den diese Arbeitsemigranten im eigenen Landes auslösen, mit dem Einfluß von Touristen aus reichen Ländern: eine bestimmte Schicht von Kunden kann sich eben steigende Preise leisten. Zitiert wird die Chefanalystin Liene Kule von "Hansabanka", deren Worten zufolge eben solche Effekte zum "Konsumboom" in Lettland - und damit zur Inflation - beitragen. Ein großer Teil des ins Land fließenden Geldes wird eben nicht investiert, sondern für Konsumwaren ausgegeben.
LETA zitiert aber auch andere Stimmen, wie den lettischen Ökonomen Janis Aboltins. Dieser hofft, dass die "heimkehrenden Letten eben Häuser bauen, Dienstleistungen brauchen, und damit auch den einheimischen Markt beleben." "Aber," so gibt auch er zu, "der lettische Markt ist klein, und durch fehlenden Wettbewerb bleiben eben in manchen Bereichen die Preise auf hohem Niveau."

Auf der Suche nach Gründen
Europäische Wirtschaftsfachleute, wie zum, Beispiel das European Business Network, schoben bisher den Preisanstieg in der Europäischen Union bisher eher die gestiegenen Energiepreise. Auch in Lettland brachten die Medien einige Wochen ständig neue Meldungen über klagende Autobesitzer. Schon überlegten Sparsame, sich Billigbenzin aus Weißrussland auf dem illegalen Markt zu besorgen.

Blair ohne Verständnis und Interesse für die baltische Perspektive
Nun kommt noch "Onkel Blair", in seiner Funktion der EU-Präsidentschaft daher und schlägt mal eben eine drastische Kürzungen der Gelder aus Brüssel vor (für Lettland würde es minus 8% bedeuten). Das würde vor allem die Regionalentwicklungsprogramme in Lettland stark treffen.
Hans-Gert Pöttering, Vorsitzender der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) im Europaparlament, äussert im Deutschlandfunk Verständnis für die ablehnende Haltung der baltischen Staaten zu solchen Vorschlägen. "Unakzeptabel für Lettland" - mit dieser klaren gegenüber LNT geäusserten Stellungnahme weiss sich auch der lettische Regierungschef Kalvitis einig mit seinen Amtskollegen von Estland bis Polen.

So zeigen sich in Lettland - trotz positiver Wirtschaftsentwicklung - gegenwärtig immer noch zwei Seiten (der Medaille). Es gibt sogar Gerüchte, dass einige Firmen in Lettland billige Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Ländern Osteuropas oder Asien ins Land holen wollen. Falls nichts dafür getan wird, dass gut ausgebildete lettische Fachleute auch angemessen bezahlte Arbeit im eigenen Lande finden - eine gruselige Persektive.

1. Dezember 2005

Letten lieben Irland - nun ist es genug, sagen die Iren

Der Traum von der grünen Insel
Eigentlich sind die Iren ja stolz darauf, dass so viele Menschen aus allen Teilen Europas ihre "grüne Insel" als Urlaubsland lieben. In den zurückliegenden Jahren brachte zunächst die EU-Erweiterung vielen Iren Arbeit, auch im europäischen Ausland. Nun aber kommen immer mehr Arbeiter aus den neuen EU-Ländern nach Irland - auch aus Lettland. Und die Iren sind sauer.

Neuerdings sind in Zeitungen und Fernsehen Lettlands nicht mehr die Werbeanzeigen für Arbeit in England und Irland zu sehen. "Das Märchen von der Arbeit in Irland ist zu Ende", titelt der staatliche Fernsehsender LNT. Die Tageszeitung DIENA macht auf mit Fotos (siehe oben) von protestierenden irischen Arbeitern. Was ist passiert?

Dramatische Szenen in irischen Häfen
Im Hafen des irischen Pembroke hatten sich Mitte November vier Schiffsoffiziere an Bord des Fährschiffs "Isle of Innis Moore" verbarrikadiert. Auch ihre Kollegen auf der "Ulysses" im Hafen von Holyhead verweigern die Arbeit. Am 30.11. stimmten auch die Hafenarbeiter in Dublin dafür, die Schiffe der privaten Linie "Irish Ferries" bis auf weiteres nicht mehr abzufertigen, berichtet "Irish News", und zitiert einen Sprecher der irischen Industrie-, Dienstleistungs- und Transportgewerkschaft SIPTU.
Die Reederei will irisches Personal durch billigere Arbeitskräfte aus dem Ausland ersetzen, und um dies zu ermöglichen, sollen die Schiffe unter fremder Flagge fahren, berichtet EURONEWS. Mitte September war die Entlassung von 543 irischen Arbeitskräften mit dieser Begründung angekündigt worden. Das irische Newsportal ONLINE.IE benennt speziell die Absicht der Fährbetreiber, Arbeiter aus Lettland anheuern zu wollen.
Die "Ulysses", die größte Autofähre der Welt, pendelt zweimal täglich von Irland nach England. Auf insgesamt zwölf Decks bietet die Fähre Platz für 2.000 Passagiere, über 1.300 Pkw oder 240 Lkw. Gut vorstellbar, was passiert, wenn solche Linienverbindungen tagelang bestreikt werden.

Nationaler Protesttag in Dublin angekündigt
Der Streit ist schon weit gediehen: IRISH FERRIES sah sich in einer Pressemitteilung genötigt, die Absicht der Gebrauchs von Tränengas zur Auflösung des Streiks dementieren zu müssen. Vor den Häfen stauen sich die LKW mit Frischware, unter anderem Lachs und Lammfleisch.
Die Betreibergesellschaft wehrt sich gegen die Argumente der irischen Gewerkschaften, die Fährlinien würden erhebliche Gewinne abwerfen. 171 Millionen britische Pfund an Verlusten habe man bei Übernahme der staatlichen B&I ausgleichen müssen. Angesichts der Konkurrenz der Billigflieger und der steigenden Treibstoffpreise sei man zum Handeln gezwungen, so eine Stellungnahme vom 29.November. Die irischen Seefähren würden immer noch 50-60% teurer betrieben als vergleichbare andere Linien, verteidigt sich "Irish Ferries".
Die Gewerkschaften dagegen haben zu einem "nationalen Protesttag" am 9.Dezember in Dublin aufgerufen.

Diskussionen in der lettischen Presse
Solchen Turbulenzen erregen nun auch in Lettland Aufmerksamkeit. Die Nachrichtenagentur LETA zitiert Jazeps Spridzans, Direktor des lettischen Seefahrerregisters, mit der Aussage, gegenwärtig würden 70 Arbeiter aus Lettland auf irischen Fähren Beschäftigung finden. Spridzans dementierte aber, dass lettische Arbeitssuchende irgend etwas mit Niedriglöhnen von angeblich nur.3,60 Euro pro Stunde zu tun haben könnten. "Kein Lette, geschweige denn irgendwelche Philipinos, würden für solch einen Lohn arbeiten," behauptet er, und legte gleichzeitig Vergleichszahlen vor. LETA hatte in einer Meldung aber genau dies bestätigt. Angeheuert würden die lettischen Bewerber von "Dobsona kugniecibas agentura".
Der von der Internationalen Transportarbeitergewerkschaft ITF empfohlene Mindestlohn sei 1,450 US Dollar pro Monat, so dagegen Spridans, aber ein lettischer Seemann in Irland würde mit 1,700 Dollar entlohnt, Bootsmänner mit USD 2,000 und Stewardessen mit USD 1,558. Inbegriffen in diese in der Regel etwa 2-monatigen Arbeitsverträge seien eine vom Arbeitsgeber gestellte Uniform, freie Verpflegung, sowie Hin- und Rückfahrt nach von Lettland aus. Gegenwärtig läge eine Anfrage nach 110 weiteren Seeleuten aus Lettland vor. Eigentlich müsse der Arbeitskräftebedarf mit Arbeitssuchenden aus der EU gedeckt werden, die lettischen Seeleute täten also nichts Illegales, verteidigte Spridzans das lettische Verhalten. Irish Ferries stünde nun aber vielleicht wegen der Streikaktionen vor erheblichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten, prognostizierte er. Karlis Svilpis, Personalmanager von "Baltic Shipmanagement Ltd." in Riga, erwähnte gegenüber LETA auch Anfragen einer Kreuzfahrtgesellschaft, die 150 Seeleute anforderte. "Das konnten wir gar nicht befriedigen," sagte er.

Der lettische Wohlfühlfaktor in Irland
Die irischen Fährschiffgesellschaften könnten nun in schwerer Krise geraten, bedauert auch der lettische Fernsehsender LNT, und zitiert die stellvertretende irische Premierministerin Mary Harney: "Das letzte, was ich sehen will, sind Arbeiter, die ihre Arbeit verlieren, eine Firma, der ihr Geschäft verloren geht, und ein Staat, der auch dabei verliert. Aber genau das passiert jetzt."

"Der Streit um die Fähren könnte die Iren gegen Lettland aufbringen", spekuliert DIENA. Zitiert wird auch das Erfolgsrezept des "keltischen Tigers" Irland, das eben bisher auf einer jährlichen Übereinkunft zwischen Regierung und Gewerkschaften beruhe, so DIENA. Auf See habe aber weder die EU noch die Regierung entsprechenden Einfluß. Eine Lösung des laufenden Konflikts könne aber Modellcharakter für andere Firmen in Irland haben, zitiert DIENA irische Politiker.

Irland ist eines derjenigen EU-Länder, die Arbeitern aus den neuen EU-Staaten ohne Begrenzungen Arbeitserlaubnisse erteilt. DIENA schätzt die Zahl der gegenwärtig in Irland arbeitenden Letten auf 30.000-40.000. Die Tageszeitung "Neatkariga Rita Avize" (NRA) vermutet gar bis zu 100.000 lettische Arbeiter in Großbritannien und Irland. Offiziell seien beim irischen Sozialregister 13 984 Letten verzeichnet, zitiert NRA Angaben der lettischen Botschaft in Dublin. Geschätzt wird aber, dass sich nur etwa jeder Dritte auch offiziell registrieren lässt. Die große Zahl an Letten, die in Irland leben und arbeiten, könne inzwischen auch bereits an den in Irland geborenen Kindern mit lettischer Staatsbürgerschaft abgelesen werden: 2004 seien es noch 30, in den ersten neun Monaten 2005 bereits 107 Kinder.
Die irische Radio- und Fernsehstation RTE zitierte Statistiken, dass die Zahl der Beschäftigten in Irland in den ersten 9 Monaten des Jahres 2005 um 5% (oder 96.200) angestiegen sei. Nach diesen Statistiken arbeiten gegenwärtig 160.000 Menschen in Irland, die aus anderen Ländern kommen. 40.000 seien 2005 neu dazugekommen.

Wie geht es weiter?
Lettische Politiker wie Aussenminister Pabriks rechnen mit weiteren, ähnlichen Auseinandersetzungen auch in anderen Ländern Europas. Aber nicht alle Letten begrüßen die massenweise Arbeitsemigration ins Ausland. Viele machen sich Sorgen um die internationale Konkurrenzfähigkeit Lettlands und die Perpektiven im eigenen Land, wenn so viele Fachkräfte weggehen. "Bald können wir in Irland das lettische Sängerfest veranstalten", meinten Diskutanten in einem Internetforum. Oder sollte man es sehen wie die lettische Politologin Žaneta Ozolina? Sie sagt:: "Europa ist eine soziale Titanic."