30. September 2015

Auch mit 90 noch nicht am Ende des Weges

Margers Vestermanis: viel erlitten, viel
erreicht, und noch immer wachen
Sinnes für neue und aktuelle
Entwicklungen
"Unter Ulmanis hat es keine Flüchtlingskrise gegeben!" Dieses Stellungnahme war vor kurzem in der lettischen Medien zu lesen. Während ansonsten viele öffentliche Äußerungen sich beeilen, der angeblichen "Vox populi'" zu folgen und Bedenken, Vorbehalte und mögliche Vorurteile gegenüber Flüchtlingen aneinanderreihen, läßt diese Stimme aufhorchen. Anlaß: der 90. Geburtstag von Marģers Vestermanis, Jude, Überlebender des Holocaust und unermüdlicher Sammler von Fakten und Zeitdokumenten zum lettisch-jüdischen Verhältnis. Ohne ihn gäbe es wahrscheinlich heute kein Museum "Juden in Lettland", aber auch sein umfassendes Wissen als Historiker, dazu seine vielfältigen Sprachkennisse und seine Lebenserfahrung ließen ihn zu einem hoch geschätzten Gesprächspartner werden. Seit 1998 wurde Vestermanis auch in den Kreis der lettischen Historikerkommission berufen.

Aktuell versuchen gerade die lettischen Nationalisten, als "nationale Liste" (Nacionālā apvienība) Teil der gegenwärtigen Regierungskoalition, die Frage des Zuzugs von Flüchtlingen so hochzuspielen und zuzuspitzen, dass sie auch die Regierung darüber stürzen sehen möchten. Angefeuert von hunderten negativen Äußerungen in Internetforen, die Angst vor Überfremdung und neuen schwer integrierbaren Menschen aus anderen Kulturkreisen haben, wird hier offenbar die Karte "Europa versteht uns nicht" ("Eiropa mūs nesapratīs") erneut auszuspielen, so wie es zuletzt vor der Volksabstimmung zum EU-Betritt 2003 versucht wurde.

"Die heutigen Politiker beherzigen zuwenig die Lehren der Vergangenheit", meint Vestermanis heute (in einem Interview mit NRA, 24.9.). Schon den Völkermord an den Armeniern im Jahr 1915 habe Hitler als Beispiel gedient, dass ähnliches unbestraft von der internationalen Öffentlichkeit geschehen kann. Auch nach dem 1.Weltkrieg habe es Probleme mit großen Flüchtlingsströmen gegeben. Damals habe es den "Nansen-Paß" für staatenlose Flüchtlinge gegeben, 1922 vom Hochkommissar des Völkerbundes für Flüchtlingsfragen Fridtjof Nansen entworfen, der hierfür mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde.
Vestermanis weist auch auf einige Umgangsweisen zu Zeiten von Kārlis Ulmanis hin, der als gewählter Ministerpräsident Lettlands 1934 die Parteien abschaffte, autoritär weiterregierte (manche sagen auch: diktatorisch), und vielen heutigen lettischen Nationalisten als Vorbild gilt. Bis zur Machergreifung Hitlers seien auch in Lettland noch deutsche und jüdische Kinder in gemeinsame Schulen gegangen, Unterrichtssprache Deutsch. Dann habe es das nicht mehr geben können, jüdische Schulen wurden gegründet, mit Unterrichtssprache: Lettisch.
1938 und 1939 seien auch etwa 2000 Juden aus Österreich und Deutschland nach Lettland geflüchtet. Die Erlaubnis dazu kam direkt von Ulmanis. Heute bedarf es dagegen schwieriger parlamentarischer Debatten und man könne ja sehen, so Vestermanis, wie schwer selbst die Aufnahme von 250 oder 776 Flüchtlingen falle (die beiden mit der EU bisher ausgehandelten möglichen Aufnahmequoten für Lettland). Damals sei es nicht etwa eine "Welle" von Flüchtlingen gewesen, sondern vor allem Mordehajs Dubins zu verdanken gewesen, einem Vertreter der lettischen jüdischen Gemeinde, der für eine stufenweise Zuwanderung und geordnete Aufnahme der jüdischen Flüchtlinge sorgte. "Er war nicht gerade ein Freund von Ulmanis, aber er hatte ihn schon in Finanzfragen beraten, verfügte über viele Kontakte unter den orthodoxen Juden, und hatte dem lettischen Staat schon ein paar Mal günstige Kredite verschafft," erzählt Vestermanis. Kein einziger Santims aus dem Staatssäckel müsse für die Aufnahme der Flüchtlinge verwendet werden, hatte Dubins damals Ulmanis versprochen. "Mēs paši visu nokārtosim – paši viņus barosim, izvietosim, apmācīsim." (Wir verpflegen sie, stellen die Unterkunft, und unterrichten sie.). Viele seien daraufhin in landwirtschaftlichen Weiterbildungseinrichtungen Lettlands untergebracht worden. Ein Künstler wie Leo Blech, vorher musikalischer Leiter der Oper Berlin, sei ohne weiteres zum Chefdirigenten an der Rigaer Oper berufen worden. Er habe gleich mehrere Arbeitsangebote gehabt, und viele seiner damaligen Inszenierungen, wie "Der Troubadour" oder "Aida" stünden noch heute als Vorbild da.
Margers Vestermanis selbst hatte gute Beziehungen zur Oper Riga, denn sein älterer Bruder war dort Konzertmeister. Als die Nazis Riga besetzten landete er auf der Straße, und wurde dann später im Wald von Biķerniki erschossen.

Zur aktuellen Flüchtlingsfrage gibt Vestermanis zu, dass vielleicht nicht alle der heute in Europa um Hilfe Suchenden Humanisten, Intellektuelle oder wirklich Bedrohte seien. In Gedenken an das eigene Schicksal aber sei er heute froh, dass Europa humaner geworden sei. Und auch seit Wiedererlangung der Unabhängigkeit Lettlands sei schon viel Positives geschehen. In jedem Gespräch mit dem engagierten Neunzigjährigen ist leicht spürbar, dass er sich auch bei weiteren aus seiner Sicht notwendigen Diskussionen keineswegs rauszuhalten gedenkt - soweit es die Gesundheit erlaubt, natürlich. Herzlichen Glückwunsch, Marģers Vestermanis!

Museum "Juden in Lettland"

Beiträge zur Person:
"Ein seltener Mensch" - Jüdische Allgemeine
"Deutsche Juden in Lettland" - Deutschlandradio Kultur
"Wie Margers Vestermanis den Holocaust überlebte und das Erinnern zu seiner Lebensaufgabe machte" - Krautreporter
Zur Eröffnung des Museums "Juden in Lettland" - TAZ
"Margers Vestermanis in Rostock geehrt" - Lettische Presseschau
"Margers Vestermanis wurde 90" - Webseite des Mdb a.D. Winfried Nachtwei
"Ein Leben für die Holocaust-Forschung" - Bayrischer Rundfunk
"Die Wunde von Riga" - Stuttgarter Zeitung