24. März 2015

Immer hübsch freundlich

In Lettland hat der neue Film von Andris Gauja sicherlich einige Diskussionen ausgelöst: "Izlaiduma gads" (deutscher Titel: "Die Lehrerin", engl. "The lesson" bzw. "The Graduation year") ist immerhin einer der meist gesehenen Filme des Jahres 2014 in Lettland. Viele der Kinobesucher werden Schulsituationen ähnlich derer kennen, wie sie hier gezeigt werden. Doch der Film stellt die Geschichte dieser Lehrerin anders in den Fokus, als es einige Pressereaktionen und sogar die Inhaltsangaben glauben machen wollen.

Nein, vergleichbar mit "Klass" ("The Class") des Esten Ilmar Raag ist der Film nicht. Oder nur als Gegensatz dazu: nicht versteckte und offene Brutalität, sondern idealistische Gutwilligkeit steht bei Andris Gauja im Fokus. Aber je nachdem wie die Ankündigung zum Film verfasst wird, könnte es auch Missverständnisse geben.

Andris Gaujas bisherige Filme fokussierten alle den dokumentarischen Blickwinkel: das Innenleben der jüdischen Gemeinschaft in Riga ("3000 km līdz Apsolītajai zemei", 2006), die letzten Tage eines todkranken Jungen ("Viktors", 2009), und ein Aufsehen erregender Film über eine Geschwisterbeziehung ("Ģimenes lietas" / "Family Instinct", 2010).

Auch bei "Izlaiduma gads" ging Gauja und sein Team in sofern dokumentarisch vor, dass nichts vorgegaukelt wird: obwohl nur einige kurze, eher verschwommene Einstellungen von Paris im Film zu sehen sind (ein Hotel von innen, der Eiffelturm vor dem Zugfenster), so wurde doch original in Paris gedreht. Ebenso in St.Petersburg und in einer russischen Industriestadt, was besonders für das Ende des Films wichtig ist.

Die Verwendung des Slogans "Die Lehrerin die nicht nein sagte" legt nahe, der rote Faden dieses Films liege in der Schwere der Entscheidungen, die Klassenlehrerin Zane zu treffen habe: soll sie die Annäherungsversuche eines Schülers ihrer Klasse erwidern, oder nicht? Wie reagieren Kolleg/innen, Freundinnen und Bekannte? Wird sie vielleicht von reaktionären, streng konservativen Einstellungen rund herum "gezwungen", ihren Gefühlen zu entsagen?

Picknickkorb und Sekt gegen schlechte Stimmung
in der Klasse: Szene aus "Die Lehrerin"
Wer ähnliches als Filmhandlung erwartet, wird zumindest teilweise enttäuscht sein. "Ich wollte mit diesem Film eine Person zeigen, die meint mit immer währender Freundlichkeit und Entgegenkommen weiterzukommen," sagt Filmemacher Andris Gauja. Und tatsächlich: dramatisch zugespitzt verläuft nicht etwa der Konflikt mit Mitmenschen, die Lehrerin Zane Gefühle ausreden wollen. Hauptdarstellerin Inga Alsiņa hätte vielleicht auch noch mehr schauspielerisches Potential zu offenbaren, in diesem Film ist es vor allem Erstaunen darüber, dass ihre Gutwilligkeit nicht zum Guten führt: sie verwickelt sich selbst in einen Strudel der Ausweglosigkeit. So ist es auch zu erklären, dass ihr Gegenpart Marcis Klatenbergs ("Max") so wenig empathisch und hingebungsvoll wirkt: frisch von ihrem Mann getrennt, den Ehering weggeworfen, probiert Zane es mit freundlichst möglicher, entgegenkommender Gutmütigkeit - und staunt offenbar selbst am Ende über das, was sie damit anrichtet. Max hat den Rückhalt eines reichen Vaters, ein Romeo aber ist er gewiss nicht - auch drei gelbe (!) Tulpen, kommentarlos im Briefkasten, reichen da nicht aus. So ist es für Zane auch keine Wahl zwischen persönlichem Glück oder gesellschaftlichem Anpassungsdruck - was dann spätestens das Ende des Films zeigt.

Die Anfangssequenz, eine junge Lehrerin in einer Klasse (fast) erwachsener Schüler/innen, die ihre interne Hierarchie längst ausgefochten und ihre Unlust gegenüber dem angebotenen Russisch-Unterricht offen zur Schau trägt, hätte auch auf die Spur von Ilmar Raag führen können. Doch Zane möchte Gutes tun, und bietet erstmal Früchtepunsch und ausgiebige Parties an, sowohl mit Lagerfeuer am Strand, als auch in ihrer Privatwohnung. Abgrenzung, Authorität und Lernziele waren gestern - hier möchte Frau Zane offenbar am liebsten nur "beste Freundin" sein. Als sie einer Schülerin, die offenbar zu Hause Probleme hat, auch noch kostenfreie Mitwohnmöglichkeit bietet, holt sie sich ausgerechnet diejenige Frau ins Haus, die von einer Beziehung mit Max träumt, der seinerseits Frau Lehrerin lieber zu Spitztouren mit dem Sportwagen einlädt. Die Lehrerkolleginnen reagieren teilweise sogar verständnisvoll: Alkohol auf Schulparties? Gerüchte um allzu enge persönliche Beziehungen mit Schülerinnen und Schülern? Hauptsache die engagierte Kollegin hat das im Griff - so heißt es lange Zeit. Nein, an einem vorurteilsbeladenen, übel wollenden Kollegium scheitert Zane keinesfalls.

Lehrerin Zane und Schüler Max: verirrt im Geflecht
gut gemeinter Beziehungen
Eine lettische Filmkriterin, Kristīne Matīsa, lobt und kritisiert die Nähe zur lettischen Schulrealität gleichzeitig (Diena). Ihrer Ansicht nach wirkt es wenig wahrscheinlich, dass Lehrerin Zane die anfängliche Unlust ihrer neuen Klasse mit so relativ wenig Kommunikation überwindet: Autorität in einer offensichtlichen "Schlangengrube" erreiche man nicht einfach durch schlichte Aussagen wie ""Būs labi, dzirdi?" ("es wird alles gut werden, hörst Du?"), und gegenüber Kolleginnen auch nicht durch den schlichten Satz "Es ļoti atvainojos" ("ich bitte vielmals um Entschuldigung"). Zugestanden. Wie schon gesagt: Lehrerin Zane ist eben nicht von Gefühlen hin- und hergerissen, sondern voller staunender Verständnislosigkeit gegenüber den Ereignissen insgesamt. Weniger als Modell für eine ungewöhnliche Liebesbeziehung, sondern vielmehr als praktisches Experiment hemmungslosen Nett-Sein-Wollens.

Beste Nebenrolle:
Aigars Ligers als "Olafs"
Solcherlei Nettigkeit folgend hätte der Film auch eine andere Geschichte erzählen können. Als die Neue im Lehrerkollegium auf Olafs trifft, Sohn eines Lehrerkollegen, wird alle gefühlsmäßige Zurückhaltung aufgegeben. Der junge Aigars Ligers spielt seine Rolle derart intensiv und überzeugend, dass vielleicht die Frage aufkommt: "Spielt" er überhaupt"? Oder hat das Filmteam die emotionale Tiefe dieser Situation vielleicht auch überrascht? Olafs Vater, alleinstehend und von durchaus wiedererkennbar typischer lettischer Zurückhaltung, könnte sich durchaus Olafs neuer Liebe anschließen. Aber er ist eben kein junger Spund mit Sportwagen ... - schade eigentlich.

mit "Izlaiduma Gads" im Gepäck kürzlich von
Vorführung zu Vorführung, durch halb Europa:
Andris Gauja, Elza Feldmane
Mit nur 35.000 Euro Herstellungskosten ist "Izlaiduma Gads" ein wahrer "Low-Budget"-Film. Nur zu einem kleineren Teil gab es Geld von der staatlichen lettischen Kulturstiftung VKKF, dem Rigaer Stadtrat oder von einigen Sponsoren. Die Dreharbeiten erstreckten sich auf die Jahre 2012 und 2013, die Suche nach Sponsoren, Spendern und Unterstützern noch über einen wesentlich längeren Zeitraum. Der Start in den lettischen Kinos war begleitet von fantasievollen Werbeaktionen: eine riesige Filmkamera schwamm auf der Daugava, kostenlose Bananen wurden verteilt, und etliche Fotos von immer neuen Orten - immer zusammen mit dem Spruchband des Filmtitels - wurden in sozialen Netzwerken gepostet. Und wer Andris Gauja und Elza Feldmane auf ihrer "Europatour" erlebt hat, per Bahn und Bus, mit Film und allen Materialien huckepack - der wird verstehen, dass das gesamte junge Filmteam sicher fast an die eigenen Grenzen gegangen ist, um sich den kreativen Traum von einem Spielfilm erfüllen zu können.

17. März 2015

Wen feiern, gedenken, betrauern oder ehren?

Immer wieder Nachrichten wie gewohnt: am 16.März finden sich in der lettischen Hauptstadt Riga jedes Jahr Menschen zu einem Gedenkmarsch an lettische SS-Einheiten zusammen. Auch in diesem Jahr fand er statt - bei näherem Nachdenken könnte aber auch der 17.März gefeiert werden, und vielleicht wäre das auch der Mehrheit der Lettinnen und Letten recht. Warum?

Angeblich geht es ja, wie auch Teilnehmer dieser Gedenkmärsche betonen, nicht um die Wiederbelebung faschistischer Ideologie. Von lettischer Seite meint man das schon seit sowjetischen Zeiten zu kennen: alle die sich für eine Erneuerung des unabhängigen Lettland einsetzten und sowjetideologisch offensichtlich nicht "auf Linie" gebracht werden konnten, wurden pauschal als "Faschisten" verdächtigt und diffamiert.
Nun geht es beim 16.März allerdings tatsächlich um SS-Einheiten, die gegen Ende des Kriegs von den Nazis zusammengestellt wurden nach dem Motto: entweder Zwangsarbeit oder SS. Zu sehr hatte die Nazi-Selbstgewiss- und Siegesgewissheit gelitten, und unter den Letten verbreiteten sich Gerüchte über Strategien, die es angeblich möglich machen sollten, das unabhängige Lettland wiederzuerrichten. Nicht unmittelbar zusammen hängt das mit denjenigen Letten, die vorher beim Judenmord mitgemacht hatten - auch davon liefen einige, wie der berüchtigte Viktors Arājs, mit dem SS-Abzeichen herum. Nein, es geht wohl in Lettland immer noch um eine "Rettung soldatischer Ehre", einer Darstellung von tapferen Menschen mit edlen Zielen, gezwungen in fremde Soldatenröcke.

Auch in Deutschland wollte es ja in den Nachkriegsjahrzehnten zunächst niemand glauben: Kriegsverbrecher, Mörder und Sadisten genossen ein gedeihliches Umfeld, überall im Nazi-System, also auch in der Armee. Gegendemonstrationen in Riga am 16.März wird gern vorgeworfen, "lettische Soldaten erniedrigen" zu wollen. Nun ja, die meisten sind ja froh, dass der Krieg vorbei ist, noch mehr froh sind diejenigen, die das Glück hatten ihn gesund zu überleben. Aber warum besinnt sich Lettland nicht anderer Ereignisse, die eindeutiger bezeugen, dass 1945 zumindest kaum jemand den einen Diktator herbeisehnte, als der andere verjagt war?

Ein stärkeres Gedenken an den 17.März würde ganz andere Schwerpunkte setzen. Im Jahr 1944 unterzeichneten an diesem Tag 189 Unterstützer ein Memorandum für ein freies, unabhängiges Lettland. Verfasser war ein "Lettischer Zentralrat" (Latvijas Centrālo Padomi), der am 13.8.1943 aus Mitgliedern der größten vor dem Krieg existierenden lettischen Parteien gebildet worden war. Der Entwurf soll aus der Feder von Konstantīns Čakste und Fēliks Cielēns stammen.
Die reale Existenz eines solchen Memorandums kann erst seit dem 2001 konkret bewiesen werden, als das Original dieses Papiers, mit allen Unterschriften, beim Renovieren eines Hauses in der Peldu iela 19 unter Bodendielen versteckt gefunden wurde. Eine Zeitlang hatte hier Valija Vaščunas-Jansone gewohnt, deren Mann einer der Unterzeichner des Memorandums war.
Am 30.November 2009 wurde das Dokument in das Lettische Register des UNESCO-Programms „Memory of the World” aufgenommen.

Eine der Seiten des
LCP-Memorandums
Auch die Unterzeichner/innen dieses Memorandums wünschten sich keineswegs die Sowjetarmee als "Retter" herbei. Sie bezeichneten es vielmehr als dringlichstes Ziel einer neuen lettischen Regierung, deren erneuten Einmarsch zu verhindern und mit allen Staaten partnerschaftliche Beziehungen aufzubauen, welche die Unabhängigkeit Lettlands anzuerkennen bereit seien. Außerdem war man bereit, den Nachbarländern Estland und Litauen die Bildung einer "Konföderation baltischer Staaten" vorzuschlagen.
Ob allerdings General Rudolfs Bangerskis die geeignete Person war, dieses Forderungspapier irgendwem weiterzureichen - da verbinden sich dann doch wieder die Illusionen des 16.und des 17.März, auch bei den möglicherweise Edelmütigen. Bangerskis war SS-Gruppenführer und als Generalleutnant der Waffen-SS Generalinspektor der Lettischen Legion. Bestenfalls also ein weiteres Zeichen dafür, dass andere starke Partner in dieser Zeit nicht zur Verfügung standen.
Konstantīns Čakste wurde am 29.April 1944 von der Gestapo verhaftet und gemeinsam mit einigen anderen Unterzeichnern des Memorandums ins KZ Salaspils verbracht, später ins KZ Stutthoff bei Danzig. Čakste starb am 21.Februar 1945 auf einem Gewaltmarsch als die Insassen Richtung KZ Lauenburg transportiert werden sollten. Fēliks Cielēns gelang die Flucht nach Schweden und starb 1964 in Stockholm.

Immerhin 90 Menschen erinnerten heute, am 17.März 2015, in Riga an das LCP-Memorandum (Latvijas Avize). Ihre Devise: "Von den Unterzeichnern können wir lernen uns auch in schwierigen Zeiten selbst zu behaupten."

Text des LCP-Memorandums (in deutscher Übersetzung)
UNESCO-Informationen zum Thema