26. März 2013

Historikerwissen digital

Nur Sammler, oder spezialisierte Forschungs-
institute werden wohl alle 27 dieser Bücher
in gedruckter Form benötigen

Fast ein ganzes Regal voller kiloschwerer dichtbedruckter Bücher können sich nun diejenigen sparen, die Interesse habe an den Ergebnissen der Lettischen Historikerkommission, die im Auftrag des Präsidenten ihre Forschungsergebnisse zu Okkupationen, Holocaust, Widerstand, Kollaboration und Anpassung zwischen 1940 und 1991 zusammengetragen haben.

Seit Herbst 2012 hatte ein Projekt begonnen, diese zwischen 2000 und 2011 bereits in Buchform publizierten Forschungsergebnisse zu digitalisieren und kostenlos für alle Interessierten öffentlich zu machen. Alle Ausgaben sind parallel in Lettisch und Englisch abgefasst und jetzt über eine Homepage der Lettischen Nationalbibliothek einseh- und auch downloadbar.
Der lettische Präsident Bērziņš äußerte aus Anlaß der Bekanntgabe des erfolgreichen Abschlusses dieses Projektes seine Hoffnung, dass sich in Zukunft auch vermehrt Schulen in Lettland sich mit schwerzhaften und viel diskutierten Aspekten der lettischen Geschichte beschäftigen mögen.

Liste der Dokumentensammlung

25. März 2013

Inspirator maximus Letonicae

Nun leider nur noch auf Buchdeckeln
und Erinnerungsfotos präsent -
für Lettland eine der prägendsten
Kulturgrößen der vergangenen Jahrzehnte
Am 3.Mai wäre er 80 Jahre alt geworden - in Zukunft wird es vielleicht ein kultureller Gedenktag in Lettland werden. Imants Ziedonis war eine der hervorragendsten Denker und Kulturschaffenden Lettlands der Gegenwart, Halt und Stütze in wechselhaften Zeiten, Lettlands meist gelesener Dichter. Sein kreatives Werk erstreckte sich auf viele Bereiche: als Publizist, Dichter, Drehbuch- und Märchenschreiber, und als politischer Querdenker unter verschiedenen Rahmenbedingungen, von der Sowjetzeit bis zum Umbruch ins neue Jahrtausend. Ziedonis war immer engagiert: zunächst als Mitglied der Kommunistischen Partei, mit drei staatlichen Auszeichnungen erster Güte. Doch dann gilt er als typischer Vertreter derjenigen Generation, die nicht immer nur alles aus gesellschaftlichen Umständen erklären wollte - sondern als Notwendigkeit immer auch sich selbst zu ändern bereit zu sein. Zu Zeiten der lettischen Unabhängigkeitsbewegung ließ er sich in den "Obersten Sowjet" wählen, um dann am 4.Mai 1990 lächelt aus dem Parlamentsgebäude zu treten, wo er drinnen gerade mit der Mehrheit für die Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands gestimmt hatte. Ein Jahr später aber legte er sein Mandat nieder und verabschiedete sich von der Politik.

"Imants Ziedonis hat viel für das lettische Selbstbewußtsein und die Kultur getan, und er schien Kräfte einfach für alles zu haben" - so sagt es Schriftstellerkollegin Māra Zālīte, "er war sicherlich der wichtigeste Mensch auch für mein eigenes Schaffen."

"Wenn Außerirdische landen würden, und es nur dann möglich wäre sich mit ihnen in Frieden zu einigen indem nur eine Person aus unserer Mitte sich mit ihnen treffen sollte - dann müsste das Imants Ziedonis sein". Alvis Hermanis, Regisseur.

"Er hat uns in schwierigen Zeiten geholfen auszubrechen, uns aus einer finsteren Genügsamkeit gerissen, geholfen uns eine andere Welt zu schaffen." Džemma Skulme, Künstlerin.

Am 19.Oktober 1975 hatte Imants Ziedonis eine Gruppe von Literaten, Künstlern, Musikern, Naturforschern, Chemikern, Ärzten und Journalisten zusammengerufen um zu mehr Fürsorge für Bäume aufzurufen. Die "Dižkoku atbrīvošanas kustību" (zu Deutsch nur unzureichend übersetzbar als "Bewegung zur Befreiung erhabener großer Bäume") reisten herum in ganz Lettland, sammelten Informationen über verlassene, vernachlässigte Orte und schufen Gedenkstätten für die Größen der lettischen Kultur. Wie Ziedonis es selbst sagte: "Lettland ist ein wunderschönes Land - aber dem Schönen muss man helfen sich zu zeigen!"
Jāzeps Baško, einer der Teilnehmer solcher Aktionen damals, erinnert sich in der Zeitschrift "IR": "Der Lernprozeß geschah fast unmerklich. Ziedonis hörte zu, und der Kolchosvorsitzende begann nachzudenken: vielleicht bauen wir den Schweinestall doch nicht dort auf dem Berg." Und weiter: "Imants sagte immer, es gäbe nur zwei Möglichkeiten: zerstören oder verbessern. Dabei ist natürlich verbessern die schwierigere Wahl." (IR 6.3.13)

Erinnert wird auch an die Ansprache, die Ziedonis am 30.August 1988 beim Gründungskongreß der "Lettischen Volksfront" hielt. Ziedonis war gesundheitlich angeschlagen, eine Herzoperation stand bevor. Aber es war erstmals die Chance, dass alle damals gesellschaftlich tätigen und wichtigen Persönlichkeiten in einem Saal zusammenkamen - etwas, was lange niemand für möglich gehalten hatte. Von Sowjetfunktionären über eigensinnige Individualisten, von Gründern der "Helsinki86"Gruppe bis zum frisch gegründeten Umweltschutzklub, von Mitgliedern der Kommunistischen Partei über anerkannte sowjetlettische Volkskünstlern bis in zu solchen, die kurz davor noch aus politischen Gründen im Gefängnis gesessen hatten. Ziedonis redete nur kurz: "Von nun an beginnt eine neue Zeit!". Alles war gesagt, kurz darauf verließ er die Versammlung. Seine Aura, seine persönliche Ausstrahlung aber wirkte auf alle.

Ziedonis war am 3.Mai 1933 in Ragaciems geboren worden, als mittleres Kind mit zwei Schwestern, Daila und Anita. Seine Eltern und auch die Großeltern waren Fischer. Er schloß die Mittelschule in Tukums ab, studierte Philologie als Fernstudium an der Fakultät für Geschichte und Philosophie sowie Literatur am Gorki Institut für Weltliteratur in Moskau.
Später war er einer der Gründer der Kulturstiftung Lettlands und deren erster Vorsitzender in den Jahren 1987-1993. Als Kandidat der lettischen Volksfront (LTF) wurde er 1990 in den Obersten Sowjet gewählt und stimmte dort am 4.Mai für die Erklärung zur Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands.
Die erste von insgesamt 16.Gedichtsammlungen erschien 1961 mit dem Titel ""Zemes un sapņu smilts" ("Sand der Erde und der Träume"). Manche sagen heute: "Wenn er nicht schon früh gesundheitliche Probleme gehabt hätte, wäre er Landwirt geworden!" Den Vater in der Verbannung in Sibirien wissend, musste Ziedonis schon als Kind hart arbeiten, er bekam Tuberkulose. Später kamen die Operation am Herzen und ein Schlaganfall dazu. Vielleicht hing sein existenzialistisches Lebensgefühl mit den andauerenden gesundheitlichen Problemen zusammen, sagen manche.
Imants Ziedonis starb am 27.Februar 2013. Im Kulturleben Lettlands aber ist er weiterhin überall gegenwärtig: noch im Kontakt mit Ziedonis wurde die Stiftung "Viegli" gegründet, die ihr Konzept schon im Namen führt ("leicht, einfach"); die Gründer um Musiker wie Renārs Kaupers (Prāta Vētra/ Brainstorm), Māra Upmane-Holšteina (Astro'n'out), und Goran Gora veranstalten bei Tee und Gitarrenmusik Seminare für junge Nachwuchs-Autorinnen und Autoren. Sarmīte Ēlerte, die über einen langen Zeitraum mit Ziedonis zusammengearbeitet hat sagt: er ist der einzige unserer großen geistigen Köpfe der Gegenwart der auch junge Künstler inspiriert. Renārs Kaupers komponiert mit Texten von Ziedonis. Komponist Kārlis Lācis nannte sein neues Album "Ziedonis. Lācis. Sievietes" (Ziedonis, der Bär, die Frauen). Im Jungen Theater in Riga ist eine der bestbesuchten Aufführungen ein Stück mit dem Titel "Ziedonis un Visums" ("Ziedonis und das Weltall"), mit Kaspars Znotiņš in der Hauptrolle als "Ziedonis". Allein 464 Lieder mit Texten von Ziedonis sind offiziell registriert - da kann vieles gesungen werden, und Lettinnen und Letten singen gern!
Vielleicht wird es also zum gefügelten Wort in Lettland werden: "wie ein Ziedonis zu sein" - obwohl ziemlich sicher ist, dass es keinen Gleichen je geben wird. 

21. März 2013

Freiheit, der Länge nach

Vielleicht ist es auch als Verkürzung der Wartezeit auf den Frühling gedacht, aber der lettischen Regierung ist es heute eine Pressemeldung wert: am 21.März 2013 ist es 7884 Tage her, dass Lettlands Unabhängigkeit international wieder anerkannt wurde. "Der 21.März ist ein Tag der Freiheit Lettlands, an dem jeder Einwohner einen besonderen Grund zur Freude darüber hat was die Freiheit bringt: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Gedanken-, Gesinnungs- und Glaubensfreiheit", so drückte es Verteidigungsminister Artis Pabriks gegenüber der lettischen Presse aus. Seit dem 21.August 1991 ist die Unabhängigkeit Lettlands nun international anerkannt, damit ist das nun genau einen Tag länger als vom 18.November 1918 bis zum 17.Juni 1940, als die Rote Armee Lettland besetzte.

Interessant dazu zu lesen sind Leserreaktionen auf Internetportalen und auf Zeitungswebseiten. Feiern Lettinnen und Letten die Freiheit ihres Landes, oder setzen sie die grundsätzliche Freiheit sofort in Verbindung mit Unzulänglichkeiten, Begrenzungen und Misserfolgen der demokratischen Entwicklung seit 1991? Eine Grafik des "Lettischen Instituts", die nicht nur die Jahre, sondern auch Tage, Minuten und Sekunden der Dauer-Freiheit zu zählen scheint, möchte wohl gern die Vergänglichkeit und Fragilität dieses Zustands symbolisieren. "Eigentlich war doch die Unabhängigkeit von 1918 auch schon am 15.Mai 1934 zu Ende", schreiben die einen - und weisen damit auf den "Putsch von oben" des damaligen Staatschefs Karlis Ulmanis hin, der Parteien abschaffte und Freiheiten einschränkte. "Und die neue Freiheit haben uns in neuerer Zeit schon längst die Šķēles, Lembergs, und die anderen kriminellen Wendegewinnler genommen", meinen die anderen. Ein Tag zum Nachrechnen also - aber um Bilanz zu ziehen gibt es sicher viele mögliche Blickwinkel.