28. Februar 2012

Russisch wird nicht Amtssprache

Dies ist das Manuskript zum Artikel in den Baltischen Briefen.
Die Letten haben gesprochen. Sie wollen nicht, daß Russisch zweite Amtssprache wird. Daß dieses Referendum so ausgeht, war vorher nicht nur absehbar, sondern klar. Allein schon wegen des nötigen Quorums. 50% der Wahlberechtigten hätten mit ja stimmen müssen für eine Verfassungsänderung unabhängig von der Wahlbeteiligung. Wäre also nur jeder zweite an die Urnen gegangenen, hätte es einer 100%igen Zustimmung bedurft.
Es ging aber in diesem Referendum eigentlich nicht darum, ob Russisch zweite Amtssprache wird, auch wenn im Osten des Landes, in Lettgallen der Anteil der Russischsprachigen mancherorts so hoch ist, daß sich ein Fremder wundern mag, wieso die Menschen auf dem Amt nicht in ihrer Muttersprache sprechen können, wo im Alltag im Straßenbild diese Sprache allgegenwärtig ist. Es ging eher um eine Provokation.
Der Initiator des Referendums, Wladimir Linderman, ist ein in Lettland lebender und Lettisch sprechender Nichtbürger des Landes. So nennt man die Menschen, die über überhaupt keine Staatsangehörigkeit verfügen, aber ein dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Lettland haben und von diesem Staat mit dem grauen Paß auch über ein offizielles Dokument verfügen, mit dem sie visafrei nach Rußland und in der EU reisen können. Einzig gilt für sie nicht die Niederlassungsfreiheit. Linderman ist als Nationalbolschewist kein unbeschriebenes Blatt in Lettland.

Eine Provokation war das Referendum aus verschiedenen Gründen. Die eigene Sprache ist für die Letten nach 50 Jahren Sowjetherrschaft ein wichtiges Symbol. Damals war ihre Sprache wenigstens in der eigenen Republik zwar auch Amtssprache, im realen Alltag aber kam man vielleicht auf dem Land ohne Russischkenntnisse durch, gewiß aber nicht in der Stadt. Außerdem wurden die Letten durch die Ansiedlungspolitik der Sowjetunion beinahe zur Minderheit im eigenen Land.

Die Verfassung sieht vor, daß ein Referendum stattfinden muß, wenn die Initiatoren Unterschriften dafür von 10% der Wahlberechtigten vorlegen können. Diese Hürde ist nicht besonders hoch, bedenkt man, daß viele Russen Nachfahren von Menschen sind, die bereits vor der Sowjetzeit im Land lebten und deshalb automatisch Staatsbürger und viele weitere sich haben im Laufe der Zeit einbürgern lassen. Bei einer Bevölkerung von 2,2 Millionen ist mindestens ein gutes Drittel russisch. Den Status des Nichtsbürgers haben aber nur etwa 300.000 Menschen. Genug Potential also von Staatsbürgern russischer Nationalität. Eine weitere Provokation bestand nun darin, daß ab der erfolgten Einreichung der Unterschriftenliste beim Wahlamt der Staat die Kosten der Organisation der Abstimmung übernimmt.. Die Letten sollten also auf Kosten des Steuerzahlers über ihre eigene nationale Identität abstimmen. Das wurde von vielen Letten als absurd empfunden.

Dem entgegenzusetzen ist freilich das Bauchgefühl eines liberalen Europäers, der sich da fragt, wie kann es nach der Auflösung eines Vielvölkerstaates sein, daß seine nun unabhängigen Teilrepubliken nicht automatisch allen Einwohner die Staatsbürgerschaft zugesteht. Das war 1991 ein Problem, weil man nicht automatisch davon ausgehen konnte, daß diese sich plötzlich in einem fremden Nationalstaat wiederfindenden Russen Lettland gegenüber Loyal sein würden. Und gewiß waren und sind es viele bis heute nicht. Andererseits hat der lettische Staat in 20 Jahren diesen Menschen nur eingeschränkt vermittelt, daß sie in Lettland willkommen sind. Die Letten ziehen gerne Parallelen zu den Türken in Deutschland, die ja schließlich auch keine Schulen in der Muttersprache hätten und auf dem Amt nolens volens auf Deutsch kommunizieren müßten. Dieser Vergleich hinkt aus ganz vielen Gründen, aber im Punkt der Bemühung der Mehrheitsgesellschaft um die Integration der Minderheit gibt es sehr wohl auch Ähnlichkeiten. Ein Lichtblick ist gewiß, daß normalerweise einer einzelnen russischen Person gegenüber der Lette diese Rechnung des großen Ganzen nicht aufmacht und ohne Murren ins Russische wechselt – mit Ausnahme der jüngeren Generation, in der das viele gar nicht können.

Angenommen Russisch wäre zweite Amtssprache, würde sich dann in Lettland viel ändern? Zunächst einmal sicher nicht. Im Geschäftsleben beschweren sich manche Letten schon, daß Arbeitgeber Russischkenntnisse verlangen, damit russische Kunden in ihrer Sprache bedient werden können. Dennoch ist es selbst auf Ämtern völlig normal, daß des Lettischen nicht mächtige Russen in ihrer Sprache empfangen werden. Das mag in den 90ern manchmal noch widerwillig geschehen sein.

Ändern würde sich, daß alle Dokumente auch ins Russische übersetzt werden müßten und daß Russisch als Amtssprache eines EU-Landes automatisch auch Amtssprache der EU würde. Das wiederum würde mehr Geld kosten.

27. Februar 2012

Russisch als 2. Amtssprache in Lettland?

Das Referendum, das in Lettland Russisch als 2. Amtssprache einführen sollte, ist mit großer Mehrheit abgeschmettert worden.
Manche (z. B. Axel Reetz in den "Baltischen Briefen (2/2012)" verweisen auf Beispiele, wo Minderheiten eine eigene Amtssprache offiziell zugestanden wird. Schwedisch in Finnland oder Rätoromanisch in der Schweiz. Hier handelt es sich um Minderheiten, die eine lange, historisch gewachsene Tradition haben.
Seltsamerweise zieht hierzulande niemand einen eigentlich viel näher liegenden Vergleich: Wie wäre es, wenn Türkisch neben Deutsch als zweite Amtssprache eingeführt wird? Schon wenn türkische Politiker ihre Landsleute in Deutschland auffordern, doch bitte die türkische Sprache hoch zu halten, wird das unisono von den Grünen über die SPD bis zu CDU/CSU  als integrationsfeindlich zurück gewiesen. Wer hier in Deutschland lebt und arbeitet, soll Deutsch können. Und das bedeutet eben nicht Assimilation.
Es ist gerade 50 Jahre her, seit unsere türkischen Mitbürger/innen als Arbeitsimmigrant/inn/en nach Deutschland zu kommen begannen. Im selben Zeitraum wuchs aufgrund des Zustroms russischer Immigranten, die faktisch gleichfalls Arbeitsimmigranten waren, der russische Bevölkerungsanteil in Lettland. Mit dem Unterschied, dass die Letten - anders als die Deutschen - bis 1989 im eigenen Land gegenüber den Immigranten benachteiligt waren.
Es gab übrigens zwischen den Weltkriegen in Lettland und vor allem in Estland ein international anerkanntes System von Kulturautonomie für Minderheiten z. B. mit eigenen Schulsystemen und Repräsentanz der Minderheiten im Parlament.
Dieses Konzept diente als Vorbild für die Bonn-Kopenhagener Erklärungen, die 1955 die Anerkennung der jeweiligen dänischen bzw. deutschen Minderheit besiegelte.

23. Februar 2012

Cool bleiben! So ist Lettland.

"Ich bin in diesem Film zusammen mit meiner Frau gegangen. Am Ende war ich froh, nicht auch meine Kinder mitgenommen zu haben, denn da wurde so oft geflucht, Alkohol getrunken und Sonnenblumenkerne gespuckt, wie ich es noch in keinem lettischen Film mehr gesehen habe!" Derart entrüstet äußerte sich Raivis Dzintars, seines Zeichens Landes-Nationalistenführer und Vorsitzender der Parlamentskommission für Bildung, Kultur und Wissenschaft, über "Kolka Cool", einen neuen Film unter der Regie von Juris Poškus (jetzt in den Kinos in Lettland!). Es sei auffällig, so Dzintars, dass staatliche Förderung in Lettland immer solchen Filmprojekten gegeben würde, die nur ein sehr "verkürztes" Bild des Landes darstellen, meint er. Immerhin entstammt Kulturministerin Jaunzeme-Gremde derselben Partei. Muss da bald wieder politische Zensur im lettischen Kulturleben befürchtet werden?  - Dem gegenüber hatte Kinokritikerin Dita Rietuma "Kolka Cool" als "wichtigsten lettischen Film des Jahres 2011" bezeichnet. Die Produktion war unterstützt worden vom nationalen Kinozentrum Riga, vom staatlichen "Kulturkapital"-Fond, vom Stadtrat Riga und vom EU-Förderprogramm MEDIA.

Was ist das also für ein "skandalöser" Film? Geflucht, gesoffen und geprügelt wird im realen Leben genug, da fehlt es nicht an Fantasie wie es auch in einem Film zugehen könnte, der in Lettland spielt. Im Kino war ich positiv überrascht.

Erstes Kennzeichen: ein Film in schwarzweiß. Eine Ästetik, die nur im ersten Moment irritiert, denn hier wird dieses Stilmittel nicht als Rückgriff auf Szenen genutzt, die in der fernen Vergangenheit liegen. Vielleicht im Traum? Schon eher. Junge Leute mit sehr alltäglichen Sorgen. Leben weitab von den städtischen Zentren, ein Dorfladen, Gärten, ein paar schnurgerade Straßen mit grauen Häusern. Der Kameraführung gebührt die nächste lobende Erwähnung: Gestaltung, Schnitt sind ein Genuß.
Zweites Kennzeichen: die Dialoge. Hier unterhalten sich noch Menschen! Entgegen dem realen Leben (!) spielt sich hier nichts vor dem Fernseher ab. Wohl beim privaten Autorennen, auch mal beim Dorffest mit einer Bierflasche in der Hand. Freund und Freundin, Bruder und Bruder, Kumpel und Kumpel: es stehen Fragen im Raum. Wer bin ich? Wer bist Du? Was will ich, was ist Dir am wichtigsten? Könntest Du nicht mehr erreichen? Kann ich Dir vertrauen? Gibt es wirkliche Liebe? Was empfindest Du für mich? In diesem Film ist jede/e für sich selbst verantwortlich. Es gibt keine Strukturen die auffangen und beruhigen: keine heilen Familien die zu mehreren Generationen in einem Haushalt leben, keine Firma mit Chef und Entwicklungschancen, keine Kirchen mit tröstenden Pfarrern, keine Kulturgemeinschaftshäuser mit kreativen Initiativen und lustigen Volkstanzgruppen. "Nun musst Du selbst klarkommen in deinem Leben!" scheint der Film zu sagen. Oder: wie eine weitere Folge der lettischen Reihe "ist es leicht, jung zu sein?"

Drittes Kennzeichen: das Theaterhafte. Hier wird beispielhaft agiert, bei "Kolka Cool" werden keine realen Geschehnisse dokumentiert. Mögliche Katastrophen stehen durchaus im Raum: eine wilde Autofahrt könnte mit einem Unfall enden, es könnte nicht nur bei einer Flasche Bier bleiben, der Sprung vom Sprungturm könnte böse enden, die Freundin könnte auch mit einem anderen schlafen, es könnte eine Prügelei geben. Der Film aber lebt von diesen angedeuteten Möglichkeiten. Das Leben besteht aus vermiedenen Katastrophen und genutzten Möglichkeiten - doch bequeme Entscheidungen sind das nicht. Als es nach heftigem Wortwechsel beinahe zur Prügelei kommt, streicheln sich die Kontrahenden statt dessen wie symbolisch im Gesicht - wie in einem Spiel eben. Den Plot (und den Knall) hebt sich der Film für den Schluß auf.

Spielt "Kolka Cool" eigentlich in Kolka? Wirklich wichtig ist das nicht. Es werden keine Sehenswürdigkeiten der Region abgefilmt oder eingebaut, auch die Meeresküste, Flüsse oder Seen spielen im Film kaum eine Rolle. Die umgebende Natur scheint unendlich - aber auch einförmig, umfassend, unvermeidbar, undurchdringlich. In all seiner prallen Realität trotzdem ein fast schon virtueller, innerer Raum, von dem aus selten wirklich etwas nach außen dringt - auch ohne Computer übrigens, zeitlos. Wie im Film eben. Wer diesen Film gesehen hat, wird vielleicht irgendwann später mal sagen können: "das ist ja wie in Kolka Cool!"

"Im Film wird der Versuch dargestellt, ein wenig wegzukommen vom langweiligen Herumhängen, und auch über sich selbst lachen zu können" - so ähnlich drückte es Regisseur Juris Poškus in einem Interview mit der DIENA aus (ich empfehle den zukünftigen Kinobesuchern die Szene mit dem plötzlich auftauchenden Polizeiauto!). Es gibt auch Stimmen, die gerade diesen Film für einen Ausdruck "lettischen schwarzen Humors" halten. Poškus selbst stellt auch heraus, er habe etwas vom Unterschied erzählen wollen zwischen Stadtleben und Landleben in Lettland. Während die einen nächtelang arbeiten müssen, um sich das teure Leben in der Stadt leisten zu können, bietet das Landleben ganz andere Szenen.
Nach den Reaktionen von Politikern auf den Film gefragt sagt Poškus einfach, es freue ihn wenn wenigstens einige der Politiker bemerken, dass es überhaupt Film in Lettland gibt. Den Politikwissenschaftler Ivars Ījabs verführten die politischen Reaktionen zu persönlichen Spekulationen, welche Partei denn wohl die im Film dargestellten Figuren wählen würden (siehe "Rigas Laiks"). Aber der Filmemacher meint auch, es bedürfe keiner Filme mehr, die das Leben künstlich darstellen und idealisieren, so wie es in der Sowjetzeit der Fall war. "Wir brauchen Filme die das Leben so zeigen wie es ist."

Filmtrailer   -  Kolka Cool: Making of

so sehen andere Filme über Kolka und die Region aus: Werbefilm über Kolka

zur Uraufführung von "Kolka Cool" in den lettischen Nachrichten (Panorama)

Diskussion mit den Schauspielern

Weitere lettische Filme hier im Blog:
Dancis pa trimJuris Podnieks - Rigas sargi - Midsummer Madness

21. Februar 2012

Abgestimmt - und was nun?

Klares Ergebnis, aber auch klare Defizite
Wie schon zu erwarten war, ist das Ergebnis der Volksabstimmung vom 18.Februar nicht besonders spannend. Zwar gab es auf der einen Seite offenbar wirklich jene, die Angst zu haben vorgaben, in Lettland würde nur noch Russisch gesprochen werden. Und auf der anderen Seite die anderen, die meinen allein schon die Abstimmung, an der ja nur Staatsbürger/innen teilnehmen konnten, sei wieder ein Beweis für die Benachteiligung der Russen in Lettland.
Die große orthodoxe Kirche in Riga glänzt seit kurzem
mit neu vergoldeter Kuppel - für die christlich-orthodoxen
Gläubigen war das orthodoxe Weihnachten auch in
diesem Jahr ein normaler Arbeitstag
Allerdings gibt es einige Anzeichen dafür, dass die Integration der russisch-stämmigen in Lettland bisher noch nicht gelungen ist. Dort, wo die einen das Aufeinanderzugehen für vernachlässigbar halten ("ich habe ja im Alltag keine Probleme"), dienen die gegenwärtigen Umstände immer noch als Nährboden für Extremisten auf beiden Seiten.
Ich möchte mich diesen an dieser Stelle keinesfalls anschließen. Zunächst gibt es ein paar Beobachtungen mitzuteilen, nach dem Motto: vorher, nachher. Wer noch unsicher ist, welche Bedeutung das Abstimmungsergebnis für Lettland haben könnte, der könnte sich ja vielleicht an verschiedenen Stellungnahmen dazu orientieren, wie sie erst jetzt, nach Bekanntgabe des Ergebnisses, klar wurden.

Was nun, Herr Ušakovs?
Noch kurz nach den Parlamentswahlen des vergangenen Oktober sahen einige in Ušakovs den Prototyp des lettischen Russen, der als erster eine Brücke zu schlagen in der Lage sein könnte zwischen Letten und Russen der jungen, modern und weltoffen eingestellten Generationen. Dazu galt es einigen Ballast wegzuräumen, der von den bisher die Szene beherrschenden Demagogen auf beiden Seiten (lettische wie russische Nationalisten) hinterlassen wurde. Dazu gehört das Eingeständnis, dass Lettland zweimal widerrechtlich sowjetisch besetzt und der Sowjetunion gewaltsam einverleibt wurde, aber genauso das Eingeständnis, zu konkreten Schritten der Integration in die lettische Gesellschaft bereit zu sein, und nicht allein schon das Lettisch-Lernen und Lettisch-Sprechen als "Schritte zur Assimilation" zu verdammen. Zu all dem schien die Führung der Partei "Saskaņa" und auch Ušakovs (der selbst Lettisch genauso fließend wie Russisch beherrscht) bereit zu sein - Regierungschef Dombrovskis schlug die Koalitionsmöglichkeiten aus, und Neu-Parteigründer und Ex-Präsident Zatlers musste sein zwischenzeitliches Eingehen auf eine Möglichkeit mit den ungeliebten "Russen-Freunden" zu kooperieren mit heftiger Kritik aus dem Lager seiner Anhänger bezahlen.
Rein werbetechnisch erschien in den Tagen der Volks-
abstimmung im öffentlichen Raum in Riga die Frage
der offiziellen lettischen Facebook-Seite wichtiger zu sein
als aktuelle politische Fragen
Dann kam Ex-Nationalbolschewist Lindermans mit seiner Idee eines Referendums zur Einführung von Russisch als zweiter Amtssprache und nutzte die Empörung im Lager der "Saskaņa"-Anhänger über die ausgeschlagene Regierungsbeteiligung. Heute tun Parteichef Jānis Urbanovičs und Spitzenkandidat Nils Ušakovs so, als wäre nicht nur dieses Referendum von ihnen persönlich initiiert worden, sondern als stünden sie auch kurz vor der Einleitung neuer Referenden - wie etwa zur Entlassung der Regierung (Pressestatement vom 19.2.).Und nicht nur das: Ušakovs behauptet auch, alle 273.347 "Ja"-Stimmen beim Referendum seien auch gleichzeitig so aufzufassen, dass diese damit "die gesamte Regierungspolitik der vergangenen 22 Jahre" für verfehlt erklären wollten (delfi.lv). Pardon, Herr Ušakovs, ich behaupte das Gegenteil: hätten sich die lettisch-orientierten Politiker auch nur ein wenig mehr bemüht, die Meinung und die Bedürfnisse dieser 273.347 Menschen mehr zu berücksichtigen, sie hätten in diesen 22 Jahren FAST JEDE Initiative unterstützt die in Richtung ihrer Interessen gegangen wäre! Geboten wurde ihnen aber nur "Schwarz-weiss": entweder pro-Russisch, oder pro-Lettisch. Ganz (zweite Amtssprache) oder gar nicht (zwangsweise Lettisch sprechen bei jeder Behörde, jedem Arzt, jedem Notfall). Andere, differenzierte Vorschläge gingen bisher unter, auch deshalb, weil sich im lettischen Lager die Einsicht noch nicht durchgesetzt hat, dass der Versuch der Ausgrenzung der russisch-stämmigen in Lettland längst keinen Sinn mehr macht. Das gilt auch für die andere Seite: das trügerische Aufrechterhalten der Hoffnung für die übrigen 200.000 Menschen, die noch keine ernsthaften Versuche zur Erlangung der lettischen Staatsbürgerschaft gemacht haben, sie bekämen in nicht allzu ferner Zeit auf wundersame Weise diese Staatsbürgerschaft geschenkt, ist unredlich.

Volksabstimmungen als Anschlag auf die Demokratie?
Eine andere Folge des Referendums ist es nun, dass Vorschläge zur Einschränkung des demokratischen Rechts der Initiierung eines Volksbegehrens / Referendums öffentlich diskutiert werden. So tritt etwa Arnis Cimdars, Chef der staatlichen Wahlkommission, für einen Vorschlag ein, unterschiedlich viele Unterschriften je nach Zielsetzung einer Initiative zur Ansetzung eines Referendums vorzusehen (DIENA 21.2.). Politiker wie Dzintars Ābiķis und Ainars Latkovskis, Vertreter der Regierungspartei "Vienotība", treten für eine Erhöhung der notwendigen Anzahl Unterschriften von derzeit 10.000 auf 100.000 ein - eine Verzehnfachung. Und auch Präsident Andris Bērziņš äußerte sich in der lettischen Fernsehsendung "Panorama" dahingehend, er sehe weitaus "modernere" Regelungen zur Durchführung von Volksabstimmungen bei den Nachbarn in Litauen und Estland.
Andere Überlegungen gehen in Richtung von Änderungen der lettischen Verfassung. Dadurch soll erschwert werden, "Grundbausteine des lettischen Staates" leicht verändern zu können.

Unterdessen wenden sich Repräsentanten derjenigen Gemeinden und Regionen, in denen sich bei der Volksabstimmung eine Mehrheit der Bürger für die Anerkennung von Russisch als Amtssprache ausgesprochen hatten, mit dem Vorschlag an die Regierung, Russisch als "Regionalsprache" anzuerkennen, also in bestimmten Regionen besondere Regelungen einzuführen. Die Liste der Vorschläge beispielsweise von Žanna Kulakova, Vorsitzender des Stadtrats von Daugavpils, reicht von der Finanzierung zusätzlicher Lettisch-Kurse, der Anerkennung des orthodoxen Weihnachten als lettischer Feiertag, bis hin zur Abschaffung von Geldstrafen im Falle der Nichtbeherrschung des Lettischen (TVnet/ LETA). In Daugavpils hatten sich 85,18% der Abstimmungsberechtigten, im Grenzbezirk Zilupe 90,25%, im Bezirk Daugavpils 65,79%, im Bezirk Krāslava 61,39%, in Rēzekne 60,29%, im Bezirk Ludza 59,69% und im Bezirk Dagda 52,52% FÜR Russisch als zweite Amtssprache ausgesprochen.

19. Februar 2012

3 : 1 für "Pret"

Ein "heißer Monat" - so beschreiben viele Letten den Februar 2012, trotz teilweise vorherrschender sibirischer Kälte. 1.092.908 wahlberechtigte lettische Bürgerinnen und Bürger beteiligten sich an der Volksabstimmung des 18.Februar, das entspricht einer Wahlbeteiligung von 70,73% (vorläufige Ergebnisse). Damit entspricht das Ausmaß der Beteiligung ziemlich genau der ersten Volksabstimmung im wieder unabhängigen Lettland, die 1998 durchgeführt wurde (69,23% Beteiligte). Abstimmungsthema damals: das Staatsbürgerschaftsgesetz. Und auch beim EU-Beitrittsreferendum lag die Beteiligung ganz ähnlich hoch: bei 71,45%.
Auffälliger Unterschied zu damals: diesmal bildeten sich auch vor den lettischen Vertretungen einiger anderer EU-Staaten lange Schlangen von Abstimmungswilligen (72% der offiziell als im Ausland lebenden Letten haben mit abgestimmt - etwa 40.000 Personen). Die höchste prozentuale Beteiligung lag mit 77,1% in Riga.Die höchste Wahlbeteiligung nach 1991 hatten die ersten wieder freien demokratischen Wahlen 1993, als 89,9% der Stimmberechtigten zu den Wahlurnen gingen.

Lettisch-Kundige sollten in den letzten Tagen und Wochen wohl vor allem ein Wort gelernt haben: "pret" (gegen). Für Lettisch, gegen Änderungen als alleinige Amtsprache. Den vorliegenden Ergebnissen zufolge haben sich 25% für Russisch als zweite Amtssprache ausgesprochen - rund 75% aber dagegen.

Plakatreklame auf den Straßen hatte es zwar nicht gegeben (eine Gruppe Studenten kratzte kurz vor der Wahl noch ein überdimensionales "Pret" aufs Eis der zugefrorenen Daugava). Verschiedene Parteien schalteten Radio- und Fernsehspots, und das staatliche Sprachenzentrum (Latviešu valodas aģentūra) produzierte Werbeclips fürs "pret"-Sagen mit ruhigem Gewissen (Clip1, Clip2, Clip3). Darin wird unter anderem die These vertreten, Lettisch sei "die einigende Sprache". In Lettland lebende Ausländer werden in diesen Clips mit Aussagen herangezogen: "ich lebe sechs Jahre hier. Ihr fahrt ins Ausland - dabei ist hier in Lettland so viel zu tun. Ich höre hier so wenig Lettisch - warum?"

Auf diese Weise sollte offenbar auch an die zahlreichen Arbeitsemigranten appelliert werden, sich am Referendum zu beteiligen. Wenn auch sonst offenbar keine Rückkehrargumente für die Wirtschaftsmigranten gelten - der Erhalt des "einzigen Landes auf der Welt in dem Lettisch die Staatssprache ist" galt als starkes moralisches Argument auf der lettischen Seite. "Du sollst Deinen Staat lieben wie Deine Mutter" - diese Parole sah ich als Schlagwort in einer lettischen Zeitung - da scheinen auch ganz andere Träume oft ungeliebter Regierungspolitiker mit der vorherrschenden Februarstimmung des Jahres 2012 zu verschmelzen.

Ein Referendum benötigt in Lettland um erfolgreich zu sein die Zustimmung mindestens der Hälfte aller Wahlberechtigten (nicht nur aller Teilnehmenden!) - in diesem Fall also 771.350 Stimmen.Dieses Minimalergebnis wurde weit überschritten - bei ca. 261.000 lettischen Staatsbürgern, die Russisch als gleichberechtigte Sprache zu akzeptieren bereit waren. Im östlichen Landesteil Latgale stimmte sogar eine Mehrheit von 55,57% für die Referendumsinitiative (bei allerdings nur 60% Beteiligung).
29% der Einwohner Lettlands geben laut Umfragen Russisch als ihre Muttersprache an, 26,91% bezeichnen sich als ethnische Russen (Zahlen des Lettland-Instituts).

Sehr viele der nach Abschluß der Volksbefragung von lettischen Fernseh- oder Radiosendern Befragten äußern sich sehr zufrieden über das Ergebnis. Ex-Nationalbolschewik Lindermans hat damit zumindest unter den Letten ein Gemeinschaftsgefühl wiedererweckt, dass seit der Bewegung zur lettischen Unabhängigkeit als im politischen Alltagsstreit untergegangen geglaubt war. Lindermans eigene Hoffnung, mindestens 300.000 Unterstützer zu bekommen, wurden mit dem Abstimmungsergebnis um 30.000 verfehlt. Stolz darauf, dass sich die Letten so deutlich und zahlreich zu einer klaren Stellungnahme zusammengefunden haben, schwingt in vielen Stellungnahmen von in den Medien befragten Menschen mit. Auch die Entlassung des gesamten Parlaments im vergangenen Jahr (ebenfalls durch Volksabstimmung) und anschließende Neuwahl hatte nicht ansatzweise ähnliches verursachen können.

Immer wieder wurde auch vorgebracht, man sei anfangs geschockt gewesen von dem Umstand, 20 Jahre nach der hart wiedererkämpften Unabhängigkeit noch über die scheinbare Selbstverständlichkeit, dass in Lettland Lettisch geredet wird, abstimmen zu müssen. Selbst Präsident Berziņš war offenbar zunächst der Meinung, man könne dieses Referendum - was ja absehbarerweise keine Mehrheit erreichen würde - einfach irgendwie ignorieren. Zum Schluß riefen aber auch alle lettischen Politiker zur Teilnahme auf: von Regierungschef Dombrovskis über Künstler und bekannte Persönlichkeiten bis hin zu Ex-Präsidentin Vīķe-Freiberga. Gleichzeitig betonen viele, im Alltag keinerlei Probleme mit im Lande lebenden Russen zu haben, und äußern ihre Hoffnung, dass durch die Diskussionen rund um dieses Referendum nicht neue Probleme geschaffen werden.
Anfang des Jahres hatte eine Gruppe Parlamentsabgeordnete eine Verfassungsbeschwerde eingereicht mit der Begründung, ein Referendum könne nicht durchgeführt werden, wenn es gegen die bestehende Verfassung gerichtet sei - das Verfassungsgericht stimmte dem aber nicht zu und lehnte es ab, das Referendum mit einer solchen Begründung zu untersagen.

Leicht ironisch schauen die litauischen und estnischen Nachbarn auf ihre baltische Schwester, nicht ohne jeweils zu erklären, Ähnliches sei im eigenen Land völlig unmöglich. Vielfach führen Kommentare anderer ausländischer Medien die erfolgreiche Unterschriftenkampagne die eine Volksabstimmung zwingend notwendig machte auch auf das relativ gute Abschneiden der als Russen-freundlich geltenden Partei "Saskaņa" und deren Nicht-Beteiligung an der neuen lettischen Regierung zurück. Die Führung der "Saskaņa" in Person des Parteichefs Jānis Urbanovičs und des Rigaer Bürgermeisters Nils Ušakovs haben sich beide dahingehend geäussert, sie würden ihren Wählern empfehlen sich für Russisch als zweite Amtssprache in Lettland einzusetzen - eine abgestimmte Position der gesamten Partei gibt es in dieser Frage nicht. Umfragen hatten auch schon im Januar das Unterstützungpotential zur Gleichstellung des Russischen auf 25% der Einwohner geschätzt. 

Eine Vereinigung von 20 verschiedenen Gruppen kultureller Minderheiten in Lettland hatte sich öffentlich ebenso wie beispielsweise die jüdische Gemeinde für Lettisch als einzige Staatssprache ausgesprochen. Der Vorsitzende der jüdischen Organisation Šamir, Rabi Menahem Barkahan, wird mit den Worten zitiert: "Die Staatssprache zu kennen und zu gebrauchen, bedeutet zuerst und zuvorderst das Land zu respektieren wo du lebst - die Kenntnis anderer Sprachen kennzeichnet hingegen den kultivierten Menschen." Die lettische Regierung stellt gegenwärtig staatliche Gelder für Bildungseinrichtungen von acht Minderheitengruppen und -sprachen bereit: Russisch, Polnisch, Häbräisch, Ukrainisch, Estnisch, Litauisch, Roma und Belorussisch.

In Lettland (mit seinen laut neuesten Volkszählungsergebnissen noch knapp 2 Millionen Einwohnern) besitzen gegenwärtig von den 603.125 Menschen, die sich als Russen bezeichnen, 363.921 die lettische Staatsbürgerschaft.
Der Stadtrat Riga, in dem gegenwärtig die "Saskaņa" den Bürgermeister stellt, hatte zuletzt versucht Sympathien auf allen Seiten zu gewinnen: 65.000 Lat (ca. 93.000 Euro) hat der Stadtrat Riga in diesem Jahr bereit gestellt um für insgesamt 1130 interessierte Bürger den kostenlosen Besuch von Lettisch-Kursen zu ermöglichen. Die Teilnahmeplätze waren schnell vergeben - nun wird überlegt, wegen der hohen Nachfrage weiteres Geld für diesen Zweck bereit zu stellen.

Ergebnisse der Volksabstimmung:
Beteiligung
Abstimmungsresultate

15. Februar 2012

Lettisches Wintervergnügen

Nach mildem Start hat Europa eine Kältewelle erfasst. Auch in Lettland herrschen schon einige Zeit Temperaturen, die häufig um die -20Grad, selten nahe Null kommen. Kälteempfindliche Westeuropäer wird dabei vielleicht die relative Ruhe erstaunen, mit der die weiße Pracht "abgearbeitet" wird. Autos fahren außerhalb der großen Städte wie selbstverständlich auf einer festen Schneeschicht, vor den großen Mietshäusern, vor öffentlichen Gebäuden und sogar in den Parks kennen offenbar viele Tatkräftige ihre Aufgaben: es wird geräumt (im Handeinsatz oft mit einfachen Holzschiebern), gefegt (auch mit Reisigbesen) und gestreut, was das Zeug hält. Abends kann man dann an der weißen Schicht an den eigenen Schuhen erkennen, dass auch eine Menge Salz dabei ist.
Hält das Eis? Für Radeln auf Seen und Flüssen gibt
es auch in Lettland noch keine offizielle
Zulassungsbehörde
Dass der Winter in Lettland "gefühlte" 9 Monate in jedem Jahr ausfüllt, das wissen auch die Fahrradkuriere in Riga. Mit breiten Spikesreifen ausgestattet sind sie auch in der kältesten Jahreszeit noch in Riga wie selbstverständlich unterwegs. Aber das reicht offenbar noch nicht aus: Schnee und Kälte spornen zu neuen Ideen an: könnten nicht die im Winter ziemlich zuverlässig zugefrorenen Wasserflächen in Lettland eine gute Grundlage fürs Radeln dar? Klingt verrückt? Ja, aber was zufriert ist doch meist flach, und wenn sich oben auf dem Eis dann Rauhreif bildet ist es auch nicht zu glatt zum Fahren (Voraussetzung: gute Reifenbreite und Profil, Spikes).
Klare Luft, strahlendes Weiß rundum, und heißer Rum
zwischendurch - ein unentdecktes Wintervergnügen
für Zweiradbegeisterte
Gesagt, getan. Eine Gruppe unerschrockener Fahrradfreunde rund um die Rigaer "Velokurjeri" probierte es kürzlich aus. Der Flußlauf der Loja, in der Nähe der nordlettischen Gemeinde Ragana gelegen, schien geeignet für derlei Experimente. Und siehe da: wer genügend warm gekleidet war (Außentemperatur -22 Grad) konnte ungewöhnliche Einblicke in lettische Winterlandschaften genießen, so wie es sonst nur vom Kanu oder Boot aus möglich ist.
Filmische Eindrücke davon gibt es hier zu sehen.