25. April 2011

Wer ist schneller, wer ehrlicher?

Die Letten sagen gerne über die Esten, die seien so langsam. In deutschen Reisführern kann man auch Anekdoten lesen, man solle sich nicht wundern, wenn ein Este, der mit einem den ganzen Tag kein Wort gewechselt habe, anschließend zum Abendessen einlade. Sicher ist so viel, daß die Esten neben diversen Mentalitätsunterschieden bei vielen Ähnlichkeiten schneller sprechen als die Letten.

Gleich ist in beiden Ländern die Höchstgeschwindigkeit von 90km/h für PKW. Im estnischen Kreis Pärnu wurde vergangene Woche ein lettischer Staatsbürger mit 133km/h angehalten und versuchte das Problem durch Bestechung zu lösen. 100 Euro sollten fließen. Die Polizei habe jedoch nicht nachgegeben, sondern habe den Delinquenten an die zuständige Präfektur überwiesen.

Die estnischen Behörden kommentierten süffisant, daß die Philosophie, daß Geld alles regeln könne, vielleicht in anderen Ländern an der Tagsordnung sei, dies jedoch im Ausland ebenfalls eine Bestrafung nach sich ziehen könne.

Gewiß, viele berichten in Lettland gar davon, daß die Polizei ob der niedrigen Einkommen eine solche Lösung regelmäßig von sich aus anböte, wobei der Autor dieser Zeilen, wenn auch nur als Beifahrer, eher von Nachsichtigkeit der Verkehrspolizei berichten kann. Aber das ist natürlich eine genauso wenig repräsentative Beobachtung wie das berichtete staatstragende Beispiel der estnischen Kollegen. Daß eine solche Geschichte es in die Zeitung schafft, belegt eher, daß es sich um ein Thema als solches handelt. An und für sich sind Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung durch Bürger eines Nachbarlandes nicht per se eine Schlagzeile.

Der Postimees-Beitrag zu diesem Thema erwähnt nicht, wie hoch die offizielle Strafe gewesen wäre. Dem Autor dieser Zeilen scheinen 100 Euro etwas wenig für Probleme für den Verkehrssünder nicht nur materieller Art.

23. April 2011

Im Ausguck

Webcam Leuchtturm Kolka
Auch in Lettland bricht der Frühling an! Für diejenigen, die vielleicht entweder im östlichen, höher gelegen Teil des Landes wohnen - oder aus dem Ausland hereinschauen wollen - bietet sich als Ausblick aufs Wetter und die heraufziehenden Hochs- und Tiefs vielleicht ja der Ausguck des Leutturms von Kolka an. Eine Webcam bietet fantastischen Live-Ausblick (hier ein Beispiel von gestern abend).

Leuchtturm-Webcam Kolka
(Nachtrag 15.5.: leider inzwischen nicht mehr durchgehend aufrufbar)
(Nachtrag 28.5.: jetzt wieder nutzbar - also, wenn mal nicht aktiv, einfach wieder versuchen!)

Oder vielleicht lieber Live-Bilder von wildlebenden Wölfen ansehen, die noch am 12.April im Slitere Nationalpark auf dem Rest-Schnee herumliefen? Das gibt es hier

13. April 2011

Ein wahrer Tag der Arbeit

auf einer Baustelle in Riga
Aus unterschiedlicher Perspektive wartet die Arbeitswelt gespannt auf den 1.Mai 2011. Dann fallen die Beschränkungen für den Arbeitsmarkt, die sich unter anderem Deutschland beim Beitritt der neuen EU-Mitglieder 2004 gesichert hatte.

Flammendes Zeichen
Offenbar in keinem direkten Zusammenhang dazu steht die versuchte Selbstverbrennung einer Lettin vor dem Berliner Reichstag am vergangenen Samstag (siehe WELT, MORGENPOST, STERN, RP-online). Allerdings zeigen die lettischen Reaktionen darauf, dass in Lettland viele sich einer wirklichen Protestaktion anschließen würden - wenn Sie denn ernst gemeint und ernst zu nehmen wäre.In den lettischen Medien werden Äußerungen des lettischen Botschafters Klava zitiert, die Frau sei bereits in Lettland in psychologischer Behandlung gewesen und habe bereits einen Selbstmordversuch hinter sich gehabt. Botschaftsangehörige hätten die Frau im Krankenhaus besucht um sie zu fragen, was ihrer Meinung nach weiter geschehen solle (Tvnet). Der Botschaft war die Frau bekannt: schon 2010 soll sie um Schutz angefragt, da sie angeblich in Lettland mit dem Tode bedroht würde. Damals schickten die Verwandten Geld für die Rückreise.

Kommentare in lettischen Internetportalen zeigen durchaus Sympathie gegenüber öffentlich inszeniertem Protest. Allerdings schwankt die Stimmung irgendwo zwischen Durchhalteparolen und Zynismus, und klingt weniger nach Solidarität unter gleichsam Betroffenen. Die einen bezeichnen die Berliner Tat als "Akt einer Patriotin, die darauf hinweisen wollte was mit Lettland geschieht", andere lästern "hat denn die Grasbrennsaison schon begonnen?" TVnet (jedes Jahr gibt es in Lettland regelmäßig Feuerunfälle aufgrund der Tradition altes Gras des vergangenen Jahres großflächig abzubrennen).

Lettische Stimmungslage
skeptischer Blick: wie wird es weitergehen
mit dem lettischen Arbeitsmarkt?
Die Frau, die sich da selbst zu verbrennen versuchte, hatte wohl die optimistischen Prognosen unseres Regierungschefs Dombrovskis noch nicht vernommen, kommentiert Sandris Točs in der Zeitung DIENA. Točs konstatiert "Kommunikationsprobleme" zwischen Regierenden und Regierten: viele verlassen seiner Meinung nach das Land, weil sie nicht weiter im Namen des Staates leiden wollen. "Normal leben" sei der schlichte Wunsch unter Lettinnen und Letten. Während die Regierung die Wünsche der internationalen Kreditgeber zu erfüllen versuche, wanderten die qualifizierten Arbeitskräfte in großer Zahl wegen des niedrigen Lebensstandards in Lettland aus.

Sind also in Deutschland massenhafte Anfragen von lettischen Arbeitssuchenden zu erwarten? 
Eher nein, meint  Kristaps Kārkliņš in der Neatkarīga (NRA). Zwar habe der deutsche Arbeitsmarkt nicht nur Bedarf an Spargelstechern, sondern auch an speziell ausgebildeten Technikern, Mathematikern, IT-Spezialisten und Naturwissenschaftlern. Aber bisher sind vor allem Deutschkenntnisse in Lettland wenig verbreitet, um wettbewerbsfähig zu sein. Selbst um einen Hilfsarbeiterjob auf dem Bau bewältigen zu können, müsse man doch wenigstens Gespräche in Deutsch führen können. Die zuständigen lettischen Behörden werden nicht müde zu betonen, dass trotz erweiterten Arbeitsmöglichkeiten in der EU alle, die nicht ihren ständigen Wohnsitz ins Ausland verlegen, in Lettland weiterhin steuerpflichtig bleiben. Laut amtlichen Regeln wird spätestens bei denjenigen nachgefragt, die sich innerhalb einer Periode von 12 Monaten weniger als 183 Tage in Lettland aufhalten, und es werden harte Geldstrafen angekündigt.
Da fallen auch die Zahlen ins Auge, die zu bei ihren Schulen als abwesend gemeldeten Schulkindern in dieser Woche in der lettischen Presse nachzulesen waren. Im laufenden lettischen Schuljahr sind 11.327 Schüler nicht mehr zur Schule erschienen (siehe IR). In dieser Statistik sind laut Aussagen lettischer Behörden auch solche Kinder zwischen 7 und 18 Jahren erfasst, die schulplichtig sind aber noch an keiner Schule registriert wurden. 5.646 dieser Kinder sind offiziell als ins Ausland verzogen gemeldet, aber zu 4.484 Kinder haben die Ortsverwaltungen keinerlei Hinweise (der Rest sucht die Schule wegen anderer Gründe nicht auf). Hier könnten also auch Hinweise zu finden sein, dass noch eine größere Zahl Eltern allenfalls vorläufige Lösungen zwischen Jobs im Ausland und der Sehnsucht nach zu Hause gefunden haben. Unter anderen diese Fragen möchte man ja mit der gegenwärtig laufenden Volkszählung auch aufklären.

Deutsche Erwartungen
Und wie sieht es aus deutscher Sicht aus? Hier stehen naturgemäß eher die Arbeitssuchenden aus den bevölkerungsreicheren Ländern im Vordergrund. 300.000 arbeitssuchende Polen prophezeiht der polnische Botschafter - der ausgerechnet mit Nachnamen "Prawda" heißt - Deutschland in den nächsten vier Jahren im Tagesspiegel. In Ostdeutschland vermutet man (vielleicht zurecht), dass andere Regionen in Deutschland für Zuwanderer attraktiver seien. So meldet etwa die Agentur für Arbeit in Halle und Anhalt/Bitterfeld 450 offene Stellen auf 4.800 arbeitslos Gemeldete. Arbeitsagenturen im Süden Deutschlands sehen es mit etwas anderer Stimmungslage. Nürnberg befürchtet "sozialen Sprengstoff" (Nürnberger Zeitung).
Dem gegenüber benennt das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln laut Süddeutscher Zeitung 117.000 offene Stellen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik, die gegenwärtig nicht besetzt werden könnten. Auch die Pflegebranche meldet einen Bedarf von 20.000 Fachkräften. 
In der Südwest-Presse warnt SPD-Politikerin Steinruck vor Dumpinglöhnen und der Notwendigkeit eines Mindestlohnes für Zeitarbeiter (Leiharbeiter). Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass Arbeitnehmerfreizügigkeit keine Einbahnstraße sei: bereits im Jahr 2009 sind 140.000 Deutsche nach Polen übergesiedelt. 
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) fordert seinerseits Bund und Länder auf, ein Sieben-Punkte-Programm zur Sicherstellung von "gleichem Lohn für gleiche Arbeit" umzusetzen. Dazu zählt nach DGB-Ansicht ein Mindestlohn von 8.50 Euro, stärkere Kontrollen als Vorsorge gegen Schwarzarbeit, ein Vorgehen gegen Mißbrauch durch Scheinselbständigkeit, und ein Verbot von Streikbrucharbeit. Auch ein Wirtschaftsmagazin des Westdeutschen Rundfunks sieht "Lohndruck aus Osteuropa".
immer höher hinaus - das war die Devise
in Lettland vor der Wirtschaftskrise
Aus Norwegen (kein EU-Land) ist zu vernehmen, dass es dort einen Fall von "Billig-Piloten" aus Estland gegeben hat (die Presse) - wir lernen, dass es auch bei Piloten Leiharbeiter geben kann. Die Frankfurter Neue Presse geht dagegen offenbar davon aus, dass die neue Arbeitsnehmerfreiheit vornehmlich denen zu gute kommt, die ihre (osteuropäische) Putzfrau "legalisieren" wollen. Dass auch die Schweiz das Thema schon erfasst hat (ebenfalls kein EU-Land), zeigt nicht nur der Beitrag in der Basler Zeitung, sondern auch die folgenden hitzigen Kommentare der Leser/innen.

Schon Ende März waren in der lettischen Presse Zahlen nachzulesen, worauf sich die Nachfrage von am deutschen Arbeitsmarkt interessierten lettischen Arbeitssuchenden am meisten richtet (siehe Financenet, Apollo.lv). Demnach fragten 33,7% Arbeit in der Landwirtschaft nach, 14,5% im Gesundheitswesen, 11% in der Industrie, 8.1% im Hotel- und Gaststättengewerbe und 5,8% im Transportwesen.

Es sind wohl keine Freudenfeiern am 1.Mai zu erwarten - wie es mehrheitlich in Lettland noch am 1.5.2004 der Fall war. Aber der Einstellung "es ist eh nichts zu ändern", die vielfach von lettischer Seite zu vernehmen ist, kann auch nicht zugestimmt werden. Erstens war es auch der Energie und Entschlossenheit der Menschen der Unabhängigkeitsbewegung in Lettland zu verdanken, dass Europa heute soweit schon aufeinander zugewachsen ist wie es der Fall ist - trotz aller bedenklichen Tendenzen im Finanzsystem und bei selbstsüchtigen Politiker/innen. Nun wäre es an der Zeit, die Möglichkeiten eines demokratischen Systems auch einzufordern und wahrzunehmen - allerdings ist das nicht gleichzusetzen mit einem bequemen Weg ins Konsumparadies. Mitbestimmung, demokratische Rechte und gleiche Chancen stehen zwar genügend aufgeschrieben in den Verfassungs- und Gesetzestexten, aber es liegt an den Bürgerinnen und Bürgern, in wie weit sie auch tatsächlich umgesetzt werden und wie ein gemeinsames Europa in Zukunft gestaltet werden kann. 

8. April 2011

Lettland wie es singt und lacht

Teil 1
Ein Rentner aus Liepāja wurde kürzlich zur Zahlung eines Bußgeldes von 25 Lat verdonnert. Sein Vergehen: er hatte eine Blondine Blondine genannt.

Was steht dahinter? Der Rentner namens Eiche wollte bei einem Bekannten in den Hof des Mehrfamilienhauses fahren, um einen Sack Briketts abzuliefern. Der Zugang wurde jedoch durch einen Jeep versperrt, dessen Fahrerein mit blonden Haaren selbst auf das Bitten des Betroffenen hin erst ihren Wagen nicht bewegte und sogar erklärte, der Hof sei schließlich privat. Erst nachdem der Rentner sein Vergehen begangen hatte, hatte die vermutlich tatsächlich blonde Dame ein Nachsehen – rief jedoch die Munizipalpolizei. Deren Wagen verfolgte den Delinquenten, konnte jedoch angeblich ob des Gegenverkehrs dessen Auto nicht überholen. So ermittelte man seine Adresse.

Wie sich später herausstellte, handelte es sich bei der betroffenen Dame und die Lebensgefährtin des Verwaltungschefs der Munizipalpolizei, der auf Nachfrage sogleich angab, sich wegen Befangenheit aus dem Fall herausgehalten zu haben.

Teil 2
Im Rigenser Esplanāde-Park gibt es derzeit eine Kirmes. Bürgermeister Nil Uschakow sagte, zeitweilige Vergnügungsparks seien in Großstädten etwas Normales, während Kulturministerin Sarmīte Ēlerte äußerte, die künftige Kulturhauptstadt Europas könne so etwas nicht erlauben. Was würde Reinis dazu sagen, titelt die Unabhängige, die als Zeitung des Oligarchen Lembergs gilt. Nun, Reinis ist der Goethe Lettlands, dessen Denkmal sich in besagtem Park befindet. Und tatsächlich befindet sich direkt vor seinem Antlitz die erste Attraktion, die ihm sozusagen die Sicht auf die anderen versperrt. Besucher und Organisatoren äußern ihr Unverständnis, da es sich nicht um eine dauerhafte Einrichtung handele, es zu Beginn des Frühlings das Grau der Stadt bunter mache und außerdem sowieso ein vergleichbares Objekt schon früher auf dem Livenplatz mitten in der Altstadt gestanden hatte.

Teil 3
Und damit zu den ernsten Themen. In Lettland zahlt man natürlich eine Umsatzsteuer, im Volksmund gerne Mehrwertsteuer genannt. Auch werden den Berufstätigen die Einkommenssteuern gleich vom Arbeitgeber abgezogen – auf dem Konto kommt also nur der Nettoverdienst an. Aber: Es gibt keine Steuererklärung in diesem Sinne, will sagen, der lettische Staat, das Finanzamt, weiß nicht, wem was im Lande im Detail gehört. Daß dies bereits vor 20 Jahren hätte erledigt werden müssen – als Kassensturz nach der Unabhängigkeit sozusagen – darüber sind sich eigentlich alle Kommentatoren einig. Dennoch ist es bislang nicht geschehen, sollte nun wieder einmal in Angriff genommen werden und ist neuerlich in der Gesetzgebungsmaschine stecken geblieben. Statt vom Sommer 2011 ist bereits vom 1. Januar 2012 die Rede. Experten gehen jedoch davon aus, daß der große graue Markt versuchen wird, nicht aus der Deckung zu kommen. Auch heißt es, daß es für die Menschen in Lettland charakteristisch sei, Angaben über ihre Einkünfte als Bedrohung zu betrachten.

5. April 2011

Frühlingsboten im Exil

Vor einigen Tagen war die Kunde zu vernehmen, die ersten Störchen seien in Lettland gesichtet worden. Ziemlich gleichzeitig fällt mein Blick auf eine Karikatur von Ēriks Ošs, der es mal wieder schafft, selbst immer wiederkehrende Ereignisse und scheinbar banal wirkende Beobachtungen mit dem zu verbinden, was Menschen in Lettland bewegt. 

Schau mal, irgend ein Rat für demographische
Angelegenheiten lädt dich ein zurück nach Lettland
zu
kommen und dort zu arbeiten ...
Ēriks Ošs wurde 1927 in Liepājā geboren, wohnte ab 1937 in Balvi und ab 1938 in Riga. 1946 begann er Architektur zu studieren, aber nach einem Jahr wechselte er zur lettischen Kunstakademie, die er 1953 abschloß. Bis 1956 arbeitete er als Lehrer in Liepājā, dann fürs lettische Fernsehen. Von 1957 bis 1995 erschienen seine Zeichnungen in der satirischen Zeitschrift "Dadzis", seit 1994 ist er einer der Karikaturisten der Latvijas avīze. Wer mehr sehen und lesen möchte, vielleicht findet sich in lettischen Buchläden noch sein dickes Buch "Kopoti raksti" (gesammelte Schriften), das auch viele Zeichnungen enthält.