28. Oktober 2011

Würmer, Panzer, und die Legende von Kangars

Der brave Valdis -
bei der nächsten
Krise bald
"allein zu Haus' "?
Am 25.Oktober 2011 begann die dritte Amtszeit von Regierungschef Valdis Dombroskis, indem das neue Regeriungskabinett von einer Parlamentsmehrheit bestätigt wurde. Alles scheint normal, unscheinbar und geordnet weiterzulaufen in Lettland - zumindest für diejenigen, die in erster Linie eine "griechische Krankheit" in Lettland befürchten würden. Dombrovskis steht für bescheidenes Auftreten, zur Einhaltung einer strikten Sparpolitik werden notfalls ganzen Berufsgruppen kurzfristig die Löhne gekürzt, und die Steuern werden besonders für Investoren aus dem Ausland niedrig bleiben. Lediglich die Finanzierungstrategien der EU über 2014 hinaus wurden öffentlich kritisiert und als für Lettland unzureichend bezeichnet. Damit kann Europa - angesichts der vielen anderen europäischen Themen, die zur Zeit viel beunruhigender klingen, ganz gut leben, so scheint es. Dombrovskis - kühler Kopf mit eisernem Willen (European Online). "Schöne Frauen, dämonische Fratzen" - ach nein, dieser Beitrag von letzter Woche in der "Süddeutschen Zeitung" bemühte sich um die Niederungen der lettischen Politik erst gar nicht, gemeint ist hier der Jugendstil in der Architektur.

Verheilen oder vernarben?
einen schönen Herbstspaziergang beispielsweise im
Gaujatal zu machen - viele Letten werden das erheblich
lieber machen als die alltäglichen Politstreitereien
im Detail zu verfolgen
In einigen wenigen deutschsprachigen Medien ist Besorgnis nachzulesen, dass die stärkste Parlamentsfraktion der "Saskaņa" nicht an der neuen Regierung beteiligt wurde - obwohl sie doch bereit war, mit ihren 31 Mandaten einen Regierungschef Dombrovskis inklusive seiner Finanzpolitik anzuerkennen (der mit seiner „Vienotība“ nur über 20 Mandate verfügt). Die "Saskaņa" mit all ihren verschiedenen Fraktionen allerdings als "Russenpartei" zu bezeichnen, wie es die Neue Züricher Zeitung tut, wird ihr nicht gerecht: es gibt keine doppelte Staatsbürgerschaft in Lettland. Spätestens wer die lettische Staatsbürgerschaft und damit auch das Wahlrecht erlangt hat, sollte auch das Recht haben als "Lette" bezeichnet zu werden (lettischer Staatsbürger, russischstämmig, selbstverständlich). Langfristig sind solche Letten nicht anders zu behandeln als zum Beispiel polnisch-stämmige Letten, die heute auf den ersten Blick oft nur noch anhand von Namen mit etwas anderem Ursprung von anderen Letten unterschieden werden können. Zwei lettische Parlamentsabgeordnete hielten ihre Ansprachen bei der Parlamentseröffnung übrigens in "Latgalisch" (wenn ich das hier mal so bezeichnen darf) - auch hier ist die Staatsbürgerschaft keine Frage (die beiden verlangen aber ein gleiches Recht überall Latgalisch öffentlich sprechen zu dürfen). In sofern sind ein Wahlerfolg von 28% der Wählerstimmen nicht gleichzusetzen mit "Russen, die in Lettland leben" oder "Nicht-Staatsbürgern" (die weder den einen noch den anderen Pass anzunehmen bisher bereit waren).

Bedauern von halblinks
Am stärksten wirkt das Bedauern über die Nicht-Regierungsbeteiligung der "Saskaņa" offenbar bei den sozialdemokratisch gesinnten Politikern nach. Die SPD-Bundestagsfraktion gab dazu sogar eine eigene Pressemitteilung heraus (SPD 26.10.2011), und die Ausgabe des "VORWÄRTS" vom 27.10.11 legt nach mit: "Neonazis in der Regierung". Damit ist die zweite Sorge benannt, die schnell eine möglicherweise wirtschafts- und finanzpolitisch solide Regierungsarbeit Dombrovskis überlagern könnte. Bereits vor Beginn der Koalitionsverhandlungen hat Nationalistenführer Raivis Dzintars verkündet: auch in der Regierung werden wir den 16.März feiern! Dieser Tag gilt all denen als heilig, die das Gedenken an lettische SS-Legionen noch höher stellen als den Stolz auf die militärische Geschichte und Verteidigungsbereitsschaft Lettlands (für letzteres wäre der Gedenktag der 11.November, der Lāčplēsis-Tag ausreichend). Seit Dombrovskis dann zur Bedingung für Minister seines Kabinetts das Gebot bekannt gab, nicht an Feiern zum 16.März teilzunehmen, verlangte Dzintars dann plötzlich nur noch 2 Ministerposten für seine Partei - und drängte eher auf die Positionen der Staatssekretäre in der zweiten Reihe (für die Dombrovskis Benimm-Regel wohl nicht gelten wird): tatsächlich erreicht haben hier die Nationalisten dann noch nur einen derartigen Posten, und zwar im Umweltministerium. Die Zuständigkeit für die Integrationsaufgaben dagegen wurden der (jetzt nationalistischen) Kulturministerin weggenommen und dem (von der Zatlers-Partei ZRP geführten) Ministerium für Bildung und Wissenschaft zugeschlagen.

Umweltpolitik im Kompetenzloch
Umweltminister
ohne Kompetenz-
nachweis:
Edmunds Sprūdžs
Die Zukunft der Umweltpolitik in Lettland dagegen muss als sehr unklar bezeichnet werden. Minister wurde hier Edmunds Sprūdžs von der ZRP, der von Ex-Präsident und Partei-Namensgeber Zatlers vor den Wahlen überraschend zum Kandidaten für das Amt des Minsterpräsidenten ernannt worden war. Mühsam musste auch die lettische Presse daraufhin Informationen einsammeln, wer dieser in der lettischen Politik bisher nicht in Erscheinung getretene Sprūdžs eigentlich ist. Wer heute auf der Seite des Ministeriums nachschaut, findet unter "Ausbildung" nur zwei Jahre am 1.Gymnasium der Stadt Riga (kann man ein lettisches Gymnasium innerhalb von zwei Jahren abschließen?), plus eine Ausbildung am "Robert-Kennedy-Collage" in Zürich (dort mit dem Vermerk versehen: "andauernd"). Ein College-Student als Minister also? Das Studium dort dauere in der Regel drei Jahre, ist auf der Webseite der Schweizer zu lesen, koste etwa 8000 Euro pro Jahr (zuzüglich Unterbringungskosten). Von einer Ausbildung als Umweltspezialist ist hier allerdings nichts zu finden. Sprūdžs habe dort "teils als Fernstudent, teils mit persönlicher Präsenz" studiert, ist bei DELFI.lv nachzulesen. Dort steht auch eine für College-Studenten in diesem Fall außergewöhnliche Aufnahmeprozedur nachzulesen: als Student akzeptiert nach einem Gespräch mit dem Rektor, unterstützt von "speziellen Empfehlungen". Bleibt die Frage, welcher Art diese "speziellen Interessen" sind, mit deren Hilfe Sprūdžs offenbar als Politiker aufgebaut wird. Als 2010 am Züricher Collage alle MBA-Module eingestellt wurden, stellte man die verbleibenden Studierenden vor die Wahl: entweder den akademischen Grad MBA zu erlangen, oder eine Dissertation zu schreiben um den Grad eines MSc (Master of Science) zu erlangen. Diese Dissertation wollte Sprūdžs zum Thema Unternehmensführung im Bereich der IT-Systeme in Lettland schreiben - Abgabetermin Januar 2012. Da wird dem Kandidaten seine Erfahrung als Verkaufsleiter bei Hansaworld, dem lettischen Ableger einer schwedischen Softwarefirma, sicher zu Gute kommen.

Was aber macht die Umweltpolitik und der Naturschutz in Lettland einstweilen? Werden sie Einars Cilinskis, der einzig seine langjährige Parteitreue bei den Nationalisten als Karriereleiter nutzen konnte, überlassen? Außer seinem Ausbildungsabschluß als Chemiker (Abschluß 1986) und einer Tätigkeit als Laborgehilfe weist Cilinskis viele Merkmale dessen auf, was politisch seit Jahren in Lettland als "grün" durchgeht: Mitglied des "Vides Aizsardzības Klubs" (Umweltschutzklub, VAK) und der lettischen "Volksfront" seit deren Gründungszeiten, schon 1990 Mitglied des Lettischen Obersten Sowjets ("ich stimmte am 4.Mai 1990 für die Unabhängkeit!"). Statt Wahlerfolgen war Cilinskis in den 90er Jahren lediglich kurzfristig eine untergeordnete Position in der Rigaer Stadtverwaltung beschieden (1993 als Kandidat einer "Grünen Liste" nicht ins Parlament gewählt, 1997 und 2001 nicht mehr in den Rigaer Stadtrat gewählt, 1998, 2002 und 2006 auch nicht ins Parlament gewählt, 2004 und 2009 erfolglos für das Europaparlament kandidiert). Nachdem er 2009 bei "„Tēvzemei un Brīvībai/LNNK”" nach 20 Jahren Mitgliedschaft austrat, um sich "Visu Latvijai" ("Alles für Lettland") anzuschließen, die mit ihren jungen, radikalen Nachwuchskräften bessere Wahl- und Karrierechancen boten, kommt er jetzt also nach der Vereinigung beider nationalistischer Kräfte wieder ins Kandidatenboot zurück und gilt offenbar als "erfahrener Politiker". - Eher ein grauer Dinosaurier aus dem Gruselkabinett braun-grüner Ideologen, als kompetenter Fachmann. Konsequenz: in der Regierungserklärung ist viel von Umwelt (lettisch "Vide") zu finden, aber in ganz anderem Sinne: "Uzņēmējdarbības vide" (Unternehmertätigkeit), "lauku vides saglabāšanai" ("Rettung des Landlebens"),  "Vide un dabas kapitāla saglabāšana" ("Bewahrung des Naturkapitals"), "Latvijas kultūrvides uzturēšanu" (Erhalt des kulturellen lettischen Umfelds). Einzige konkrete Aussage ist die Absicht, umweltfreundliche Verkehrsmittel fördern zu wollen. Gleichzeitig soll aber die "Mobilität der Bewohner auf dem Lande" gefördert werden, was ja wohl nur Straßenbau und Autopolitik bedeuten kann. Eine lettische Abfallverwertungssystematik soll eingeführt werden (waren die bisherigen Maßnahmen so wertlos?), und auch die Energieversorgung soll "effektiver" werden - mit welchen Maßnahmen, bleibt unklar. Als lettische Maßnahme gegen Klimaerwärmung werden Verbesserungen in der Waldwirtschaft angeboten. Das wars schon.

Einziger - aber zweifelhafter - Trost: auch die linke Variante der "Saskaņa" hätte, in all ihrem Einklang, keinen potentiellen fachlich kundigen Kandidaten auf dem Felder der Umweltpolitik aufzubieten gehabt.

Populismus auf allen Seiten
Solchen absehbaren Schwächen der politischen Strategie stehen aber die Schlagworte der öffentlich so gerne geführten lettischen Diskussion gegenüber. Da steht das "Lettisch sein" oder "Russisch sein" eben scheinbar sinnbildend über allem. Ex-Präsident Zatlers gab zeitweise vor, die starren Lager aufbrechen zu wollen, fügte statt dessen aber der politischen Diskussion lediglich ein paar weitere Anekdoten hinzu. "Würmer brauchen wir nicht!" - so lehnte er eine Erweiterung der Regierungsmannschaft auf die "Grünen und Bauern" (ZZS) ab, und meinte wohl die "Untergrabung" durch Kräfte der bisher so einflußreichen Oligarchen. Auch Zatlers vorschnell geäußerter Satz "nur Panzer werden uns von unserer Haltung abbringen, mit 'Saskaņa' eine Koalition einzugehen" wird sich ebenso in das Gedächtnis des Wahlvolkes eingebrannt haben - so, oder so. Die einen (fast Verschmähten) wie die anderen (dann doch allein Gelassenen) müssen in der angeblichen Leitfigur Zatlers einen unsicheren Kantonisten sehen. Und im Zweifel - nicht umsonst heißt es ja: zwei Letten, drei Meinungen - ist derjenige, dessen andere Meinung als absolut unannehmbar hingestellt werden soll, dann ein "Kangars", eine mythische Figur aus dem Epos von "Lāčplēsis" (Bärenreißer) von Andrejs Pumpurs. Während die einen sich selbst gern die Rolle des "Lāčplēsis" verleihen (kämpfend gegen alle Feinde von außen, seien es die Bolschewiken oder deutsche Gutsherren), paktiert Kangars mit den fremden Missionaren und verrät das Geheimnis von Lāčplēsis' übermenschlicher Stärke an die Feinde. Letten verlieren also nur, weil es in den eigenen Reihen "Kangari" gibt, so die Logik dieser vermeintlichen Volksweisheit.
Und diejenigen, die mit der ihrer Meinung viel zu lettisch-freundlichen Haltung der "Russen-Partei" "Saskaņa" nicht einverstanden waren (zumindest nicht mit den Kompromißvorschlägen der SC in den vergangenen Koalitionsverhandlungen), auch diese Kräfte beginnen sich jetzt wieder zu regen. Keine Zeit des gemütlichen Durchregierens, Herr Dombrovskis. Auch wegen den Merkwürdigkeiten in den eigenen Reihen.

Weitere Infos:
Text der Regierungserklärung von Valdis Dombrovskis (lettisch)
Text der Koalitionsvereinbarung (lettisch)

1 Kommentar:

Axel Reetz hat gesagt…

Regierungen zählen ist in der Politikwissenschaft eine umstrittene Sache. Meine Definition. 1. Kabinett Dombrovskis als Ablösung von Godmanis. 2. nach dem Austritt der Volkspartei 2010. 3. nach der Wahl zu 10. Saeima und 4. nach der Wahl zur 11. Saeima. Nach meiner Rechnung handelt es sich also um die 4 Regoerung Dombrovskis und damit seit 1990 um die 19. Lettlands. Italien läßt grüßen.