16. März 2011

Murmeltiertag

Warum muss es in Lettland eigentlich einen speziellen Tag geben, an dem öffentlich denjenigen gedacht wird, die sich zu Zeiten nazideutscher Besetzung die SS-Uniformen angezogen haben? Oder: taugt dieser Tag etwa besonders gut für öffentlich zur Schau getragenen Anti-Faschismus? Wird das immer so weitergehen?
"Wir lassen uns den Besuch des Freiheitsdenkmals nicht verbieten" tönte es durch die lettischsprachigen Internetforen im Vorfeld zum 16.März. Wie in den letzten Jahren auch wogt der Gerichtsstreit hin und her: Genehmigung von Demonstrationen, Gedenkmärschen und Kundgebungen, Widerruf, Klage, Verbot von Demonstrationen, Erlaubnis. Für meinen Teil muss ich sagen: ich habe mir dieses "Ereignis" einige Male angesehen und kann nicht erkennen, dass es den Beteiligten oder gar Lettland besonders zur Ehre gereichen würde.

Da wirken auch die Verlautbarungen lettischer Politiker/innen meist eher seltsam. Innenministerin Linda Mūrniece - selbst nur noch auf Abruf im Amt und vorläufig vom eigenen Rücktritt zurückgetreten - empfahl öffentlich, heute das Freiheitsdenkmal nicht aufzusuchen - sowas dient national Gesinnten (keineswegs nur Extremisten) als Steilvorlage in ihrem Misstrauen gegen die amtierenden Regierungen (ähnlich passierte es auch schon Ex-Präsidentin Vīķe-Freiberga).
Auf der anderen Seite erscheint es ausländischen Beobachtern erstaunlich, dass in zeitlicher Nähe zum 16.März regelmäßig die Grenzkontrollen verstärkt werden. Denn die seltene Gelegenheit, mit allerlei Losungen und Slogans "im Protest gegen die Faschisten" auf der "guten" Seite zu stehen, lässt allerlei bunte Gruppierungen ebenso murmeltierartig wieder auferstehen und sich sammeln - am besten in fotografiertauglicher Nähe zu den alten lettischen Veteranen. Die Notwendigkeit, auch gegen Anfänge des Nazismus oder Faschismus sich wehren zu wollen, sei hierbei nicht bestritten. Aber viele - in thematischer Nähe zum Sowjetischen "Siegestag" des 9.Mai - tragen hier Litaneien der "Abrechnung" mit Lettland vor sich her, die weder ein Bekenntnis zu Demokratie und Rechtstaat darstellen noch eine bessere Form der Aufarbeitung geschichtlicher Ereignisse.

Nun denn: es ist angerichtet! Die Folgen des regierungsamtlichen Fehlers, Ende der 90er Jahre kurzzeitig die Ausrufung dieses Tages als "nationaler Feiertag" geduldet oder mit hervorgerufen zu haben, sind offenbar noch nicht beseitigt. Zur Hebung des nationalen Stolzes taugt dieser Tag allerdings ebenfalls kaum - diejenigen, die das glauben, behaupten dies wohl in Ermangelung an Erfahrung, was Schande und Blamage bedeuten können. Und das gilt besonders für diejenigen, die so viel Wert legen darauf zu behaupten, in die SS-Einheiten damals hineingezwungen worden zu sein.

6 Kommentare:

kloty hat gesagt…

Was die Gegendemonstranten angeht, was soll man denn machen? Die Situation ist aehlich wie bei der SiKo in Muenchen, alljaehrlich findet sie statt und alljaehrlich gibt es Proteste dagegen. Soll man etwa gar nicht mehr protestieren? Die Meinungshoheit den Waffen-SS Veteranen und ihren Anhaengern, von denen einige schon mit Kinderwaegen gekommen sind, ueberlassen?

Albert Caspari hat gesagt…

Falls das eine Frage sein sollte: ich würde ungern für "man" oder andere Ereignisse auf der Welt antworten wollen.
Ich bin einige Male an diesem Datum vor Ort gewesen. Das Thema ist nicht so einfach, wie es von außen vielleicht aussieht - besonders dann, wenn "man" mit Maximalforderungen an die Letten herantritt was sie alles erst "einsehen" müssten bevor "man" sie ernst nimmt (ich meine Letten und die aus ihrer Sicht wichtigen Abschnitte der lettischen Geschichte).

Aus deutscher Sicht gesprochen: wir sollten uns um die Kontakte zwischen lettischen Rechtsradikalen und deutschen Neo-Nazis kümmern. Das wird hoffentlich nicht nur an einem Tag gemacht.

Einige Letten werden sich sicher daran gewöhnen müssen, dass gegen diese Aufmärsche in Gedenken an eine SS-Legion sich nicht nur "die Russen" wenden. Aber mit dem, was offenbar professionell organisierte "Gegendemonstranten" vorzugsweise in Englisch schon alles für Pressestatements am 16.Mai abgelassen haben, damit möchte ich zumindest teilweise auch nichts zu tun haben (Stichwort "Instrumentalisierung").

kloty hat gesagt…

Aber mit dem, was offenbar professionell organisierte "Gegendemonstranten" vorzugsweise in Englisch schon alles für Pressestatements am 16.Mai abgelassen haben...


Wo haben sie was abgelassen? Die Frage ist ernst gemeint, die Berichtserstattung und Pressemeldungen fand ich dieses Jahr viel weniger als in vorigen Jahren.

Albert Caspari hat gesagt…

>Pressestatements<
Ich war mehrmals als interessierter Journalist und Fotograf am 16.März in Riga. Gemeint ist das, was ich dort alles zu lesen und zu hören bekam.
Also nicht bezogen auf den heutigen Tag.

Oder auch, Zitat Bürgermeister Usakovs: "der 16.März ist schon länger als eine Art Wettbewerb verschiedener politischer Kräfte untereinander bekannt, und das hat dann weniger mit dem Gedenken an irgendwelche Legionäre zu tun" (gegenüber dem Portal Apollo.lv am 9.März), und weiter: "die Presse schreibt leider über alles, was an diesem Tag irgendwie geschieht." (frei übersetzt)

Axel Reetz hat gesagt…

Möchte auch etwas beisteuern. Ich verstehe klotys Vergleich mit der Sicherheitskonferenz nicht. Die Waffen-SS ist ein problem der deutschen und der lettischen Geschichte und Albatros hat mit seiner Einschätzung völlig recht. Auch unter Historikern gibt es hierüber heftige Diskussionen über die Interpretation. Was aber hat das mit einem informellen Treffen von Politikern zu tun? Sich zu treffen und zu reden ist allemal besser, als nicht nicht zu treffen und zu bombardieren.

Albert Caspari hat gesagt…

Ergänzt werden könnte noch, dass in London gegenwärtig ein interessantes Theaterstück zu diesem Thema läuft: "Remembrance day" von Aleksey Scherbak (der aus Lettland stammt).

www.royalcourttheatre.com/news/articles/cast-announced-for-aleksey-scherbaks-remembrance-d/