17. Februar 2011

Europa und Lettland verstehen sich schlecht

Es gehört zum Selbstverständnis einer liberalen Demokratie – darunter versteht die Politikwissenschaft vor allem Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung – alle Einwohner am politischen Prozeß zu beteiligen. Daß sich Lettland und sein nördlicher Nachbar Estland 1991 dagegen entschieden, allen Einwohnern automatisch die Staatsbürgerschaft zuzugestehen, stieß immer wieder auf heftige Kritik im Westen und Besuche des Hohen Kommissars für nationale Minderheiten der OSZE, Max van der Stoel, gehörten in den 90er Jahren zu den besonders pikanten Ereignissen.

Auf der einen Seite wollten die baltischen Staaten dazugehören, möglichst schnell allen westlichen Organisationen beitreten, was ihnen bei Europarat und OSZE auch zügig gelang. Andererseits gab es noch erhebliche Schwierigkeiten, die Werte dieser westlichen Gemeinschaften zu teilen. Aber beide Organisationen hatten auch seit ihrer Gründung in der Zeit des kalten Krieges die Aufgabe, Forum für den Dialog von Staaten mit unterschiedlichen Werten zu sein.

Gleichzeitig fiel es den westlichen Organisationen schwer zu verstehen, wie der Osten tickt, der sich doch gerade anscheinend die westlichen Werte zu übernehmen anschickte. Und im Falle von Estland und Lettland und der Staatsbürgerschaft wurde vermutlich manchmal weder ordentlich zugehört noch in die Geschichtsbücher geschaut. Eine willkürliche Entscheidung war es in beiden Ländern nicht. Der Kompromiß sah schließlich so aus, daß die OSZE in Estland und Lettland 1993 Missionen eröffnete, die beide Staaten in der Ausarbeitung ihrer Gesetzgebung im Zusammenhang mit der recht großen „Minderheit“ beriet und unterstützte. Diese Arbeit genügte schließlich für die Aufnahme von Beitrittsgesprächen zur EU. Bereits drei Jahre vor dem erfolgreichen Abschluß wurden die Missionen 2001 schließlich geschlossen.

Während der Vorsitz Litauens in der OSZE, die in den vergangenen zehn Jahren deutlich an Bedeutung verloren hat, bevorsteht, bleiben alle drei baltische Republiken Mitglied. Und einen Hochkommissar gibt es immer noch. Nach dem Niederländer Max von der Stoel ist es derzeit der Norweger Knut Vollenbek, der jetzt Lettland besuchte und die lokale Politik erneut provozierte. Er schlug vor, den Staatenlosen Lettlands das Wahlrecht zuzugestehen.

Das wäre freilich ein Präzedenzfall. Während in den USA ohne Melderegister selbst der Wahlbürger nur theoretisch einer ist, solange er sich nicht aktiv um seine Rechte gekümmert hat, würde eine Wahlberechtigung von nicht Staatsbürgern dieses Institut in Frage stellen.

Es sei an dieser Stelle erwähnt, daß Estland den Staatenlosen das kommunale Wahlrecht wegen deren Konzentration im Nordosten des Landes gewährt. Ein vergleichbarer Schritt in Lettland hätte zur Folge, daß die Zahl der Wahlberechtigten gerade in der Hauptstadt Riga sprunghaft steigen würde. Das ist insofern bemerkenswert, als in Ermangelung anderer Spielfelder für Politiker und Parteien die kommunale Politik in den Hauptstädten des Baltikums stark politisiert ist.

Vollenbek begründet seinen Vorstoß mit einer stärkeren Einbindung der Staatenlosen in die Gesellschaft. Vor dem Hintergrund der Integrationsdebatte in Frankreich und Deutschland darf behauptet werden, daß in Estland und Lettland in der Tat viele Menschen, die der Titularnation nicht angehören, eine Parallelgesellschaft bilden, nur ihresgleichen treffen und auch medial in einem anderen Informationsraum leben.

Außenminister Ģirts Valdis Kristovskis von der Einigkeit widersprach diesem Anliegen wie erwartet. Erwartet nicht nur als Vertreter der Regierung und des größeren Koalitionspartners, sondern auch durch seine politische Vergangenheit, die ihn über mehrere Parteien vor seinem Schritt zur Einigkeit eine politische Heimat bei den Nationalisten hatte finden lassen, für die er bis 2009 im EU-Parlament saß. Sein Argument ist jedoch entlarvend: ein Teil der Gesellschaft betrachte es sowieso nicht für erforderlich wählen zu gehen und viele seien an einem Erwerb der Staatsbürgerschaft nicht einmal interessiert.

Ersteres kann mit Fug und Recht ein wissenschaftlicher oder journalistischer Beobachter behaupten. Aus dem Munde eines Politikers klingt es nach Kapitulation oder stiller Freude. Daß viele Staatenlose tatsächlich kein Interesse an einer Einbürgerung zeigen, hat hingegen verschiedene Gründe. Ein wichtiger sind die besseren Reisemöglichkeiten nach Rußland mit dem grauen Paß, der in Richtung Westen wiederum kaum Einschränkungen gegenüber Staatsbürgern kennt. Würde man den Staatenlosen das Wahlrecht zugestehen, widerspricht sich Kristovskis schließlich selbst, nähme man ihnen die letzte Motivation zur Einbürgerung.

Vollenbek wiederum betonte verstanden zu haben, daß Lettland noch viel zur Integration zu leisten habe. Sprachkurse seien wichtig, so der Hochkommissar, wie ihm viele Menschen versichert hätten. Aber dies ist bei in Lettland lebenden Russen sicher auch gern ein vorgeschobenes Argument, während andererseits viele Letten sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, in Anwesenheit von Russen zu schnell und bereitwillig in deren Sprache zu wechseln und ihnen damit die Möglichkeit zur Praktizierung der eigenen Sprachkenntnisse zu nehmen.

Fest steht wohl nur so viel, auch 20 Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion ist dieses Thema noch nicht abgehakt.

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