30. Oktober 2009

Abstürzende Himmelskörper, verglühende Illusionen?

In Deutschland gilt es vielleicht als Spruch für unverbesserliche Optimisten: "Solange uns der Himmel nicht auf den Kopf fällt - machen wir weiter!"
In Lettland ließe sich - im Blick auf die Ereignisse dieser Woche - dieser Spruch noch etwas abwandeln. Was ist wahrscheinlicher: dass als geologische Weltsensation in Mazsalaza ein Meteorit niedergeht, oder dass eine Lettin Präsidentin des Europäischen Rats wird?

Als der litauische Außenminister Anfang dieser Woche mit ersten Äußerungen dahingehend zitiert wurde, die ehemalige lettische Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga sei als Kandidatin für die europäischen Spitzenposten beim Europäischen Rat durchaus geeignet, da war Lettland noch mit anderen Schlagzeilen beschäftigt.

Auszug aus der Meldung der lettischen Nachrichtenagentur LETA vom 26.Oktober: "Nahe des Bauernhofs 'Kundrati' in der Nähe des Ortes Mazsalaza im Norden Lettland ging am Sonntag nachmittag ein Meteorit nieder und erzeugte einen Auschlagskrater von 20m Durchmesser." Aber nur einen Tag später, am 27.Oktober, sahen die Meldungen dann ganz anders aus: Die Meldungen über einen angeblich bei Mazsalaza niedergegangenen Meteoriten, worüber die Medien weltweit berichtet hatten, seien von der Telekommunikationsgesellschaft TELE2 bewußt selbst inszeniert worden. Klarer Fall von HOAXX also (ein selbst medial inszenierter Marketing-Trick).

Einige lustige Details am Rande wies der ganze Fall auf. So verkaufte die Eigentümerin des Stück Lands, wo der angeblicher Aufschlagkrater war, vorgedruckte Eintrittskarten an alle Besucher, die die "Sensation" selbst sehen wollten. Im (wahrscheinlich selbst gegrabenen) Loch sei lediglich etwas Salpeter mit Schwefel gemischt verbrannt worden, so die Ekspertise eines herbeigerufenen Geologen. Und ganz den Reklametricks entsprechend eröffnete auch schon jemand eine Webseite unter "meteorits.lv" um dort die entsprechenden Souvenirs zum "Ereignis" anzubieten. Und offenbar die Initiatoren selbst hatten (als Begleitmaterial, eben für jede Altersgruppe etwas) einen angeblichen Live-Mitschnitt der "Entdeckung" als Video bei YouTube eingestellt.

Dennoch wird die ganze Inszenierung für die Firma TELE2 wohl auch unangenehme Folgen haben: das lettische Innenministerium kündigte an, den Vertrag mit TELE2 "wo immer es geht" lösen zu wollen. Innenministerin Linda Mūrniece ist offenbar sauer, dass infolge der Aktion Feuerwehr- und Rettungsdienste unnötig alarmiert wurden (DB 27.10.). Die schwedische Zentrale von TELE2 sah sich offenbar genötigt sich bei der lettischen Regierung zu entschuldigen (Meldung NRA). Die ganze Meteoriten-Aktion, die von der lettischen TELE2-Filiale erdacht, aber aus Stockholm unterstützt worden sei, habe 13.000 Lat gekostet, weiß Dienas Bizness. In der Baltic Times findet sich diese Summe näher aufgeschlüsselt: offenbar handelt es sich hier um die Forderungen des lettischen Innenministeriums nach Kostenerstattung.
Lettlands bekanntester Marketing-Experte Ēriks Stendenieks (!MOOZ) - der ja schon so manchen unbeliebten Politiker durch auffällige Plakatkampagnen wieder ins Parlament half - bejubelt dagegen die Meteoriten-Idee. "Da sieht man mal wieder, was Marketing bewirken kann!" Da kommt wohl das Prinzip rüber: es ist nicht wichtig, ob die Leute es gut finden, Hauptsache man redet drüber.

Hauptsache man redet drüber?
Ob dasselbe Prinzip auch für den "politischen Fixstern" Vīķe-Freiberga gilt?
Immerhin hat ihre mögliche Kandidatur inzwischen auch in Lettland eine Diskussion darüber ausgelöst, welche Interessen Lettland in Bezug auf den Europäischen Rat eigentlich hat. In einem Beitrag der Neatkarīgā (30.10.) wird deutlich, dass Regierungschef Dombrovskis eigentlich die Besetzung des Postens eines "europäischen Außenministers" für wichtiger hält. Durch die Benennung einer Kandidatin als potentielle Ratspräsidentin habe Lettland an Einfluß in dieser Diskussion verloren, so wird dort Dombrovskis zitiert. Außenminister Māris Riekstiņš wiederum habe geäussert, solange der Lissabon-Vertrag (die EU-Reform) noch nicht unterschrieben sei (gemeint ist der tschechische Präsident Klaus, der eine Unterschrift voraussichtlich erst nächste Woche geben wird), müsse Lettland ja offiziell noch keine Kandidatin benennen. Inzwischen lässt nun auch Dombrovskis eilig Zustimmung und Unterstützung verbreiten zur Kandidatur Vīķe-Freiberga, obwohl eigentlich alle politischen Kommentator/innen auch in Lettland ihre tatsächlichen Wahlchancen als ziemlich gering einschätzen. 
Ob das aber die Chancen von VVF gerade vermehrt, wenn sich auch die führenden lettischen Politiker nicht einig sind? Dieser Uneinigkeit sei sich auch Vīķe-Freiberga nicht bewußt gewesen, als sie den Vorschlag einer Kandidatur akzeptiert habe. Für Kommentator Aivars Ozoliņš (früher DIENA, heute CITADIENA) könnte der Vorgang dennoch einen ""Wendepunkt darstellen, der Lettlands Politik zurück ins Sonnenlicht bringt." Mal sehen, wie das nächste Woche dann aussieht.

28. Oktober 2009

Europäische Lettlandkennerinnen?

nun gut, ich habe das Thema unterschätzt. Nur weil irgendeine Zeitung in Österreich offenbar die drei baltischen Staaten nicht auseinander halten kann, muss der Vorschlag, Vaira Vīķe-Freiberga zur Präsidentin des EU-Parlaments (schrieb ich erst - korrekt muss es aber heißen: des Europäischen Rats) wählen zu wollen, noch nicht falsch sein.
Europäische Waschküche offenbar - stark gerüchtehaltig, neblig, undurchsichtig, wer hat da welche Karten im Spiel?
Das ZDF widmete sich heute nachmittag (Europa heute) ebenfalls dem Thema. Aber neben Claude Juncker und Tony Blair werden in der deutschen Presse bisher in diesem Spiel keine konkreten Namen genannt. Ist es nicht ähnlich wie beim Geschacher um den Posten des UN-Vorsitzenden, als viele die Kandidatur von Vike-Freiberga gut fanden, aber ihre tatsächlichen Wahlchancen als gering einschätzten?

Immerhin war die ehemalige lettische Präsidentin NIE Politikerin. Ethnologin, Psychologin, Europa-Freundin, reicht das?

Seit heute nachmittag gibt es auch eine Pressemitteilung der lettischen Nachrichtenagentur LETA dazu.  Vīķe-Freiberga habe eingewilligt, als Kandidatin für den Posten der Präsidentin des EU-Parlaments zur Verfügung zu stehen, heißt es da. Regierungschef Dombrivskis habe ihr die volle Unterstützung durch die lettische Regierung zugesagt. Vīķe-Freiberga sei mit ihrem "Wissen, ihrer Erfahrung und ihre linguistischen Fähigkeiten" (sie spricht Lettisch, Englisch, Französisch, Deutsch und Spanisch) eine gute Kompromisskandidatin, da die EU-Staaten sich über die Besetzung des Postens noch nicht einigen konnten.
Daina Lasmane, die persönliche Sekretärin Vīķe-Freibergas, stellt es so dar: VVK sei "auf Reisen" von sehr vielen Einzelpersonen und auch Nichtregierungsorganisationen angesprochen und zu einer Kandidatur ermutigt worden. Der gegenwärtige Außenminister Māris Riekstiņš wiederum hatte gegenüber LETA lediglich "nicht ausgeschlossen", dass Lettlland auch eine/n eigene/n Kandidat/in nominieren könnte.

Gibt es noch andere Äußerungen dazu? "The Local" zitiert die schwedische EU-Kommissarin Margot Wallström mit der Aussage "es sollte eine Frau machen". In diesem Beitrag wird übrigens bestätigt, dass der Vorschlag zu Gunsten Vīķe-Freiberga tatsächlich von Seiten Litauens kam. Die Leser/innen-Diskussion auf derselben Seite zeigt aber nur, dass viele einen EU-Präsident Blair verhindern wollen. Manche schlagen sogar Angela Merkel als Kandidatin vor (aber keiner erwähnt Vīķe-Freiberga näher). 

Baltic Times (ja, sie erscheint noch!), titelt heute "Vīķe-Freiberga sei bereit Präsidentin zu werden" (das muss sich für lettische Leser/innen doch fast als Witz verstehen, wer die EU-Postenschiebereien nicht so im Blick hat). Und hier wird nun auch Dalia Grybauskaite, die "echte" Präsidentin Litauens, nun auch als Unterstützerin dieser Kandidatur aufgeführt. Earth Times wiederum meint, auch der estnische Präsident Ilves sei schon mal als Kandidat genannt worden, und überhaupt spreche vielleicht ihr Alter inzwischen gegen Vīķe-Freiberga (sie wird am 1.Dezember 72 Jahre alt). Angeblich hätten sich die Polen besonders zu Gunsten von Ilves ausgesprochen. 

Angela Merkel wurde heute als deutsche Kanzlerin erneut gewählt. Aber eine Frau an der Spitze von Europa? Eine Osteuropäerin, wenn auch eine "international angewärmte, auf einem Chefsessel in Brüssel? Schön um die Verwirrung allerseits, aber ich glaube es nicht. Jemand anderer Meinung?

27. Oktober 2009

Österreichs Lettlandkennerinnen

Auch zwei Jahre nach Ende ihrer Amtszeit ist die ehemalige lettische Präsidentin Vaira Vīķe-Freiberga immer noch international bestens bekannt. Sollte man meinen. Oder vielleicht sollten speziell die Mitmenschen aus Österreich doch mal wieder ein paar Leserbriefe schreiben an ihre Zeitungen. Zum Beispiel an den KURIER, der in der heutigen Ausgabe folgendes zur Frage der Vergabe der Spitzenpositionen bei der Europäischen Union Folgendes meldet:  

"Für den Ratspräsidenten hat einer offen Interesse geäußert: Der dienstälteste Regierungschef in der EU, Luxemburgs Ministerpräsident Jean-Claude Juncker, würde die Rolle übernehmen. Juncker: "Wenn alles passt und wenn der Wunsch an mich herangetragen würde, würde ich nicht von vornherein Nein sagen. Aber das Profil muss passen."   Neben Juncker hat der frühere britische Premier Tony Blair intern erkennen lassen, den Job gerne zu machen. Öffentlich hat er sich selbst dazu aber noch nicht geäußert. Genannt werden zudem der niederländische Premier Jan Peter Balkenende oder der frühere finnische Premier Paavo Lipponen. Litauen hat seine ehemalige Präsidentin Vaira Vike-Freiberga vorgeschlagen."  Zitat Ende. 

Na ja, wer blickt schon bei der EU so richtig durch? Ich bin mal gespannt, ob es jemand korrigiert. Wo doch erst vor wenigen Tagen Österreichs Außenminister Spindelegger seinen Kollegen Vygaudas Ušackas traf (Pressemeldung), und diesem versicherte, die gegenseitigen Beziehungen seien "ausgezeichnet und von vielen Gemeinsamkeiten gekennzeichnet". Da darf spekuliert werden, mit welchem Land aus baltischer Sicht Österreich dann zu verwechseln wäre? Sind die eigentlich unabhängig? 

Oder vielleicht wurde die berichterstattende Journalistin einfach an den falschen Ort geschickt? Gerade heute hält Vaira Vīķe-Freiberga nämlich einen Vortrag. Thema: "Die Herausforderung eines wirklich geeinten Europas". Vortragsort: Lugano. Auch ein europäisches Nachbarland Österreichs. 

Ergänzung, 28.10.: offensichtlich hat diese Meldung zwei weitere österreichische Varianten, aus denen der Grund für den "Flüchtigkeitsfehler" auch erahnt werden kann.  
Die "Kleine Zeitung" brachte zum gleichen Thema: "Außenminister Spindelegger bestätigte indes das Interesse Österreichs an einem der beiden verbleibenden EU-Spitzenposten, nannte aber weder Bundeskanzler Wolfgang Schüssel (V) noch Außenministerin Ursula Plassnik (V) namentlich, die im Gespräch sind. "Sie werden bald eine längere Menü-Liste sehen", sagte der litauische Außenminister Vygaudas Usackas. Und mit der lettischen Ex-Präsidentin Vaira Vike-Freiberga bereicherte er das EU-Postenkarussell um einen weiteren Namen."

Die Neue Züricher Zeitung NZZ schrieb dazu: "Der britische Aussenminister Miliband forderte einen «starken» Ratspräsidenten, ein Kriterium, das der frühere Premierminister Blair zweifellos erfüllt. Milibands Amtskollege aus Litauen, Usackas, sprach sich für die ehemalige lettische Präsidentin Vike-Freiberga aus."


Was lernen wir daraus? Österreichs Journalisten entdecken ein Thema. Vielleicht sollte ein Außenminister damit rechnen, dass ausländische Journalisten sein kleines Land nicht so genau kennen, und lieber nur von seiner eigenen Präsidentin sprechen?

19. Oktober 2009

Mach mir den Schröder!

Es könnte sein, dass nur wenige in Lettland das Lipperland kennen. Aus diesem schönen Lipperland kamen in jüngster Zeit gleich zwei führende Politiker der SPD: Gerhard Schröder und Frank-Walter Steinmeier. Beiden wurde im Bundestagswahlkampf das Etikett aufgeklebt, verantwortlich für die sogenannten "Hartz-IV-Reformen" zu sein, die für viele als Symbol für soziale Ungerechtigkeit herhalten müssen. Weitaus symbolischer aus lettischer Sicht war aber das, was Schröder gleich nach Abwahl als Bundeskanzler zu tun müssen glaubte: Aufsichtsratsvorsitzender beim russischen Staatsunternehmen GAZPROM zu werden. Da nützen all die Mühen vom Sommer des Jahres 2000 nichts mehr, als Schröder als erster deutscher Kanzler Lettland und den baltischen Staaten einen Besuch abstattete - eine Schwarz-Gelbe Regierung hatte dies sieben Jahre lang nicht zustande gebracht.

Dieser Tage zeigte sich in den lettischen Medien die Tendenz, dass der Deutsche Schröder (Šrēders) mindestens genauso nachhaltig im Gedächtnis der Lettinnen und Letten verbleiben wird wie der Deutsche Kohl. Aigars Kalvītis, vom 2. Dezember 2004 bis zum 5. Dezember 2007 Ministerpräsident Lettlands, abgesetzt von einer damals "Regenschirmrevolution" oder "Cappuccino-Revolution" genannten Volksbewegung der Unzufriedenen, hatte noch im Schwunge des Wahlsiegs 2006 seinem Land "sieben fette Jahre" versprochen - und nicht nur damit, sondern auch mit seiner bäuerlich geprägten Berufserfahrung öffentliche Vergleiche mit einem rosafarbenen landwirtschaftlichen Nutztier ausgelöst. Nun kam erst sein Rücktritt, dann die Krise. Ein Schelm, wer dabei denkt: hätten wir unseren Cūkmens doch bloß nicht zur Rücktritt gezwungen!

Manche wollten
Kalvītis ja schon als lettischen Botschafter in Moskau empfehlen. Nun ist mit dem neuen russischstämmigen Bürgermeister von Riga, Nils Ušakovs, ein neuer "Lieblings-Gesprächspartner Moskaus" auf den Plan getreten. Aber Ende September zog Kalvītis seinen Trumpf aus dem Ärmel: ein Business-Lunch persönlich mit Vladimir Putin, gegeben während eines Investitionsforums in Moskau, zog die Aufmerksamkeit auf sich. Die lettische Europaabgeordnete Inese Vaidere, Mitglied der im Rigaer Stadtrat oppositionellen "Pilsoniska Savieniba" (bürgerschaftliche Vereinigung), sah gemäß lettischen Presseberichten "Parallelen zwischen Schröder und dem Verhalten von Kalvītis" (TVNet). Mit den Worten "Wenn es Gespräche gäbe, so müsse es ja auch Gründe dafür geben", spielte Vaidere darauf an, dass Kalvītis kürzlich seinen Sitz im lettischen Parlament aufgegeben hatte (und nun wohl frei für Sonderaufgaben im Sinne der russischen Wirtschaft sei?). Kalvītis selbst hatte die Notwendigkeit engerer wirtschaftlicher Vereinbarungen zwischen Russland und Lettland als Grund für seine Initiative angegeben, und die Möglichkeit eines Besuchs des russischen Außenministers Lavrov in Lettland angedeutet.

"Alles nur Neider", reagierte
Kalvītis auch auf kritische Reaktionen des gegenwärtigen lettischen Wirtschaftsministers Kampars. "So ist er eben", kommentiert der lettische Journalist Karlis Streips, "so war er als Regierungschef, so ist er jetzt immer noch."

15. Oktober 2009

Lettland im Herbst

Daß Lettland am Rande des Staatsbankrottes steht, dürfte sich mittlerweile weltweit herumgesprochen haben. Wie aber sieht der Alltag nun aus? Was geschieht auf der politischen Ebene? Befindet sich das Land in einer Schockstarre?

Die Umstände haben zu Beginn des Jahres den erst 38jährigen Finanzexperten und bisherigen Europaabgeordneten Valdis Dombrovskis ins Amt des Ministerpräsidenten gebracht und damit jene Partei zurück in die Koalition, welche eine ganze Weile von den oligarchischen bisherigen Regierungspartnern gemieden worden war.

Zwar sind Dombrovskis rhetorische Fähigkeiten, der Bevölkerung die Krise, ihre Folgen und das Regierungshandeln zu erläutern besser als die seines Vorgängers Ivars Godmanis. Aber regiert Dombrovskis das Land tatsächlich? Wird es ihm gelingen, sich bis zu den Wahlen im Herbst 2010 im Amt zu halten? Dann hätte er eine der seit 1991 am längsten regierenden Exekutiven geleitet.

Innenpolitische Hauptkriegsschauplätze
Wie weit der Einfluß Dombrovskis’ reicht, ist zweifelhaft, da die bislang federführende Volkspartei in ihrer Positionierung sprunghaft geworden ist, mal die Verhandlungen mit dem IWF befürwortet, dann wieder bereits unterzeichnete Vereinbarungen verurteilt und beständig latent mit dem Austritt aus der Regierung liebäugelt.

Eine Möglichkeit wäre, ähnlich wie 2004 die Verabschiedung des Haushalts abzulehnen und damit die Regierung zu stürzen. In diesem Fall könnte der Übervater der Partei, Andris Šķēle, wie Phönix aus der Asche in die Politik zurückkehren. Damit könnte sich die Partei der Ersten Partei / Lettlands Weg anschließen, die bei der letzten Regierungsbildung in die Opposition ging; andererseits ließe sich demonstrieren, daß in einer schwierigen Lage eine ernsthafte politische Kraft die Regierung nicht stürzt. Gleichzeitig könnte auch die Neue Zeit den Querulanten Volkspartei aus der Koalition schmeißen und versuchen, sich auf die zehn Stimmen der Ersten Partei / Lettlands Weg zu verlassen.

Hinter diesen Planspielen verbirgt sich letztlich die Frage, wer von einem neuerlichen Regierungssturz nach kaum mehr als einem halben Jahr im Amt und ein Jahr vor den Wahlen profitieren könnte und wem dies eher schadete. Ainārs Šlesers von der Ersten Partei etwa deutete an, daß seine Partei wohl eher nicht an einer neuen Regierung teilnehmen würde.

Für eben diesen ist die jüngste Ankündigung des früheren Ministerpräsidenten am ehesten ein Problem, da beide ähnliche Ambitionen haben. Während der über sieben Jahre als „einfaches Parteimitglied“ figurierende Šķēle zur Erklärung vorgab, er habe schon früher darauf hingewiesen, in die Politik zurückzukehren, sobald man an seiner Tür klopfe, trat das Parteimitglied mit der Mitgliedsnummer zwei Vaira Paegle, umgehend aus der Partei aus. Šķēle habe nie seine geschäftlichen Interessen beiseite geschoben und werde dies gewiß auch in Zukunft nicht tun. Sie war vor zwei Jahren eine von drei Parteitagsdelegierten gewesen, welche die Hand gehoben hatten, als gefragt wurde, wer einen Rückzug Šķēles aus der Partei wünscht.

Alltag und kleine Leute
Vor diesem Hintergrund sind die strammen Verordnungen der Regierung bei der einfachen Bevölkerung angekommen. So hat die Regierung einige als besonders schmerzhaft empfundene Einschnitte vollzogen wie die Schließung von Schulen auf dem Land. Dies mag angesichts der demographischen Entwicklung angemessen sein, es wurden aber auch Krankenhäuser geschlossen, darunter in der Hauptstadt selbst zwei traditionsreiche Häuser. Das Erste Krankenhaus war Ende des 19. Jahrhunderts damals noch am Stadtrand errichtet worden und befindet sich inzwischen zentrumsnah. Über lange Zeit hatte sich diese Einrichtung auf die Betreuung von Unfallopfern und Notfällen spezialisiert. Auch diese Reduzierung war allerdings seit längerem angedacht und nun unrealisiert geblieben.

Die inzwischen dramatisch steigende Arbeitslosigkeit führt zu großen sozialen Problemen. Nicht nur ist die Arbeitslosenunterstützung gering, nach Ablauf des Zeitraums für diese Zahlungen fehlt es an einer Art “Sozialhilfe”. Doch auch wer die Arbeit nicht verloren hat, sieht sich mit Einkommenskürzungen etwa bei Lehrern und einer 70% Rentenkürzung für Rentner, die ihr Einkünfte mit zusätzlicher Arbeit aufgebessert haben, konfrontiert. Selbst für bislang besser Verdienende sieht die Welt inzwischen anders aus. Wunderten sich in den vergangenen Jahren Rigabesucher noch über die große Zahl an teuren Limousinen – man zeigte eben in der lettischen Gesellschaft, was man hatte – so werden inzwischen vielen, die ihre Kredite oder Leasingraten nicht mehr bedienen können, die Autos wieder abgenommen. Das macht sich in weniger Staus während der Hauptverkehrszeiten ebenfalls bemerkbar.

Da einige Menschen tatsächlich in echte Not gekommen sind, es wird von Familien berichtet, die noch vor kurzem Leasingraten bezahlen könnten, bei denen es aber nun nicht einmal mehr für die Mahlzeiten ihrer Kinder reicht, hat die Regierung ein sogenanntes soziales “Kissen” beschlossen. Dies kann in Anspruch nehmen, wer gleichzeitig von der Krise und den Reformen betroffen ist. So erhalten Mittellose kostenlose Gesundheitsversorgung und Medikamente. Dagegen jedoch protestiert der Verband der Geringverdiener[1]. Dort wirft man der Regierung vor, daß NGOs nicht unterstützt werden, sie selbst etwa ihre Räumlichkeiten gratis für den Handel mit Second hand Kleidung zur Verfügung stellten. Überdies sei es ungerecht, daß Untätige oder Faulenzer kostenlose medizinische Versorgung erhielten, die sich eine zum gesetzlichen Mindestlohn arbeitende Mutter eines Kleinkindes nicht leisten kann. Personen, die Probleme mit den Ratenzahlungen haben, werden ebenfalls stattlich mit Stundungen unterstützt. Den Kommunen will die Regierung mit Schulbussen helfen.

Der lange Arm korrupter Praktiken
Auf der anderen Seite haben viele Staatliche Einrichtungen den befohlenen Rotstift aber nicht mit 20% umgesetzt und sind statt dessen erfinderisch geworden. Anstelle der Auszahlung sogenannter Prämien wurden plötzlich fiktive Überstunden honoriert. oder statt Bargeld Einkaufsgutscheine ausgegeben. Besonders pikant ist, daß sich gerade das Justizministerium mit internen Anordnungen über Kabinettsbeschlüsse hinweggesetzt hat, was inzwischen öffentlich von der Chefin des Rechnungshofes, Inguna Sudraba, kritisiert wurde. Andererseits wies selbst die stellvertretende Leiterin der Staatskanzlei, Baiba Pētersone, früher Mitglied der rechtskonservativen Für Vaterland und Freiheit, darauf hin, daß gegen den Kabinettsbeschluß nicht verstoßen worden sei.

Diese Ignoranz bezeichnete der Regierungschef als “kreative Buchhaltung”. Sie macht den Nihilismus und die Eigensucht eines Teils der Bevölkerung plakativ deutlich, denn nicht alle Einwohner Lettlands haben auch nur den Ansatz einer Chance, auf ähnliche Art und Weise ihren Lebensstandard zu halten.

Das Justizministerium wird geführt vom Parteivorsitzenden der Volkspartei, dem eloquenten Māreks Segliņš, der bereits früher als Innenminister mit interessanten Äußerungen über Polizei und innere Sicherheit aufgefallen ist. Freilich, die einstweilen zweifelhaft erscheinen, ungeachtet der Frage, ob die Wahlen turnusmäßig im Herbst des nächsten Jahres oder – was ebenfalls zweifelhaft ist – früher stattfinden.

Diese Auseinandersetzung finden statt vor dem Hintergrund, daß in Lettland bislang noch kein einheitliches Besoldungssystem im öffentlichen Dienst eingeführt worden ist – über das jetzt neuerlich diskutiert wird. Einstweilen ohne Folgen.

Innenpolitische Nebenkriegsschauplätze
Als wenn es derzeit nicht Wichtigeres gäbe, beschäftigt sich die Regierung jedoch auch mit anderen umstrittenen und kritischen Fragen in den Niederungen des Alltags. So sollen bei der Polizei Patrouillen- und Verkehrsabteilung zusammengelegt werden. Dann könnten sich die einen auch um Überschreitungen der Straßenverkehrsordnung und die anderen um Verstöße gegen die öffentliche Ordnung kümmern. Bislang fahren die Streifenwagen kreuz und quer durch die Stadt, auch jene der Munizipalpolizei – de facto eine Art aufgerüstetes Ordnungsamt – und oft läßt sich beobachten, daß immer gerade die falsche Streife am falschen Ort zur falschen Zeit ist.

Gleichzeitig flammte kürzlich ein neuerlicher “Taxikrieg” auf. Innenministerin Linda Mūrniece wehrt sich gegen Vorwürfe des Chefs von Air Baltic, Bertold Flick, die Polizei müsse sich schneller als bislang um den erneut ausgebrochenen Taxi-Krieg kümmern. Bereits in den 90er Jahren hatte es einen solchen gegeben. Jetzt ist er erneut entfacht, weil Flick auf diesem Markt als neuer Konkurrent aufgetreten ist. Konkurrierende Fahrer beschädigen die Autos anderer Firmen und mitunter entpuppt sich auch ein Kunde als “Verführer”, der den Fahrer an einen Zielort lotst, wo bereits Komplizen warten.

Dieselbe Ministerin reagierte im September überaus heftig auf eine nicht angemeldete Demonstration im südlettischen Bauska. Hier hatten sich spontan Menschen im online Sozialnetzwerk draugiem.lv zu einer Protestaktion gegen die Schließung des örtlichen Krankenhauses verabredet und blockierten mit der Brücke über die Mēmele (das ist nicht die Memel!) die Hauptverkehrsader des Baltikums Via Baltica. Anschließend wurde auch der die Brücke über die Mūsa besetzt. Als die Sondereinheiten Alfa aus Riga eintrafen, wurden zahlreiche Personen verhaftet, die sich Anfang Oktober vor Gericht verantworten mußten. Eine junge Frau, die aus Sorge um die medizinische Versorgung ihrer Mutter und ihrer Kinder auf einer der Brücken gestellt worden war, wurde freigesprochen. Ein weiterer Angeklagter erhielt die wohl eher symbolische Strafe von 5 Lat, ca. 7,50 Euro. Der Mann hatte zum Zeitpunkt seiner Verhaftung 2 Promille Alkohol im Blut. Er gab auch vor den Medien zu, Alkoholiker zu sein. Am fraglichen Tag sei er zufällig vorbeigekommen auf dem Weg zu einer Kneipe für die nächste 100g Dosis gegen den Kater vom Vortag. Als er die Menschen und die Polizei sah, habe er nur helfen wollen.

Ökonomischer Status Quo
Dann ist da noch die Diskussion über die Abwertung der Landeswährung, des Lats. Dies versuchten bislang alle Kabinette zu vermeiden, wie der Teufel das Weihwasser, denn viele Menschen haben sich in Fremdwährungen verschuldet. Die Abwertung würde Lettlands Konkurrenzfähigkeit vielleicht verbessern, doch exportiert Lettland ohnehin kaum Industrieprodukte. Statt dessen würde sich die Privatverschuldung deutlich erhöhen. Die Kreditgeber Lettlands haben die Politik akzeptiert. Doch aus Brüssel heißt es auch, daß die EU jeden eingeschlagenen Weg unterstützt hätte.

Freilich gibt es neben allen Horrormeldungen auch positive Folgen der Krise. Die Letten hatten während der fetten Jahre, auf Pump, über ihre Verhältnisse gelebt und damit ein Außenhandelsbilanzdefizit von 25% des BIP erreicht. Dieses ist hinweggeschmolzen ebenso wie die Inflation, welche sich zwischenzeitlich der 20% Marke genähert hatte. Inzwischen gibt es sogar eher deflationäre Tendenzen, die einzig durch die Steuerpolitik nicht immer sichtbar sind.

Aber auch diese positiven Aspekte ändern nichts daran, daß die Haushaltslage klamm ist. Ministerpräsident Dombrovskis ist darum der Ansicht, daß nur Steuererhöhungen oder Ausgabensenkung helfen. Die Neue Zeit hat darum den Vorschlag einer veränderten Immobilienbesteuerung in die Diskussion gebracht.

Hilflose Politik
In diese Gemengelage platzte die Ankündigung des Präsidenten, am 15. September zum zweiten Mal von seinem verfassungsmäßigen Recht Gebrauch zu machen und eine außerordentliche Kabinettssitzung einzuberufen, bei der wie bereits im April um Gesundheit, Haushalt, Bildung sowie die Verwaltung und eine Bewertung des während der letzten fünf Monate erreichten berichtet werden soll. Zatlers erklärte, die Verabschiedung des Haushaltes sei nun ebenso besonders wichtig wie klare Angaben, wie die Situation aussieht, was Lettland 2010 zu erwarten hat und aus der Krise heraus kommt. Der Präsident äußerte sich ebenfalls zuversichtlich, daß diese Sitzung auch die Stabilität der Regierung deutlich machen könne, wenn die Minister sie geschlossen verlassen.

Da die Sitzung im Gegenteil zu jener im April, die hinter verschlossenen Türen stattgefunden hatte, dieses Mal vom Fernsehen Live übertragen wurde, stellte sie sich wie eine vom Präsidenten geleitete Pressekonferenz des Kabinetts dar. Die zuständigen Minister der erwähnten Bereiche hatten Bericht zu erstatten und mußten anschließend auf zusätzliche Fragen des Staatsoberhauptes antworten.

Dies änderte nichts an den Reibereien zwischen den die Regierung tragenden politischen Kräften inklusive der Opposition. So wurden erneut Zweifel deutlich, ob das Parlament den Haushalt verabschieden wird. Die Erste Partei / Lettlands Weg erklärte sich, obwohl in der Opposition befindlich, dazu zwar grundsätzlich bereit, Diskussionen, wird das Budget angenommen, während die Volkspartei Zweifel zu zerstreuen versuchte, doch die Woche war ebenso reich an Spekulationen über die Ambitionen verschiedener Personen wie auch über hinter den Kulissen bereits organisierte Manöver.

Die Fraktionsvorsitzende der Neuen Zeit, Solvita Āboltiņa, etwa zeigte sich überzeugt, die Volkspartei versuche, um nicht als Königsmörder dazustehen, ihre Partei zu provozieren, die Regierung gegenüber der EU als instabil erscheinen zu lassen, um einen den Sturz der Regierung herbeizuführen und damit auf das eigentlichen Ziel einer Abwertung des Lats hinzuarbeiten. Dies hatte jüngst bei einer “Konferenz” der Partei deren graue Eminenz, Andris Šķēle, neuerlich ins Spiel gebracht.

Andere Beobachter sind der Ansicht, daß sich die Parteien gegenseitig provozierten. So habe Dombrovskis die Debatte über die Immobiliensteuern anläßlich einer Sondersitzung des Parlament zur Anhörung des Finanzministers auf die Tagäsordnung gesetzt wohl wissend, daß die Volkspartei diesen Vorschlag ablehnt und mit ihr auch das Harmoniezentrum und die Erste Partei / Lettlands Weg. Gleichzeitig hat die Sitzung parteiinterne Meinungsverschiedenheiten der Volkspartei zu Tage treten lassen, als bei der von ihr selbst beantragten Sondersitzung nur weniger ihrer Abgeordneten erschienen. Einige Mandatsträger sind der Ansicht, daß ein Verlassen der Regierung für die Partei tödlich wäre. Gleichzeitig kritisiert ihr Vorsitzender Segliņš, daß der Premier keine Mehrheit für die Wahl der Volkspartei-Abgeordneten Anta Rugāte ins garantiere, obwohl auch die anderen Parteien diese Kandidatur ablehnen.

Dies alles nährt Spekulationen über eine Annäherung zwischen Volkspartei und Erster Partei / Lettlands Weg und Pläne zur Bildung einer neuen Regierung. Dem seit Jahresbeginn nicht mehr im Kabinett sitzende Ainārs Šleser werden seit Jahren Ambitionen auf das Amt des Ministerpräsident nachgesagt. Da aber laut Verfassung der Präsident das alleinige Recht einer Nominierung hat, hätte wohl ein parteiloser Kandidat bei einem gegenwärtigen Regierungssturz bessere Aussichten. Und so gibt es Gerüchte, der kürzlich abgetretene Vorstandsvorsitzende der Sparkasse, Mārtiņš Bondars, sei Zatlers als Kandidat von Šlesers selbst vorgeschlagen worden.

Šķēles Rückkehr in die Politik gibt Kommentatoren ebenfalls Anlaß zu Spekulationen. Einige meinen, der Dinosaurier der lettische Politik benötige eine Plattform. Das spräche für einen Rehgierungssturz, der dann eventuell aber erst nach der Verabschiedung des Haushaltes geschehen könnte.

Aber es gibt eine weitere Option. Seit den Kommunalwahlen im Juni ist Šlesers stellvertretender Bürgermeister von Riga in einer Koalition mit dem Harmoniezentrum, das damit erstmals an wichtiger Stelle politische Verantwortung übernimmt, die es gerne auf der nationalen Ebene auch täte. Jānis Urbanovičs verkündete bereits, das Zentrum habe sich vor der Macht nie gedrückt.

Auch in der Krise hat sich am politischen Kindergarten in Lettland ebenso wenig geändert wie am nihilistischen Machtumgang. Die Zeitung Latvijas Avīze überschrieb einen Kommentar diese Woche mit “Bankrots līdzšinējai ‘politikai’” – Bankrott der bisherigen “Politik” – erstaunlicherweise dauerte dies bis September 2009.
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[1] Der lettische Begriff maznodrošinātie bedeutet eher „gering abgesicherte“, ein Wörterbuch bietet „Benachteiligte“ als Übersetzung an.

14. Oktober 2009

Auch morgen wieder ein Tag?

Gestörte Frühstückslektüre

Wer in Lettland Zeitung liest, kennt schon seit den ersten Tagen der im Jahre 1990 verkündeten Unabhängigkeit Lettlands auch "DIENA" (der Tag). Ein junges Team, das keine Lust hatte ideologische Kampfblätter herauszugeben, sondern seriösen Journalismus zu begründen, möglichst unabhängig auch von den Interessen von Parteien, legte damals mit viel Enthusiasmus los.
Während andere Blätter wie
Cīņa ("Der Kampf, in Sowjetlettland herausgegeben zusammen mit Sovetskaya Latviya) sich zu Wendezeiten" zunächst neu gegründet in "Neatkarī Cīņa" (der unabhängige Kampf) und dann in "Neatkarīgā Rīta Avīze" (unabhängige Morgenzeitung) umbenannten, kam DIENA quasi jungfräulich, modern und westlich orientiert an ihre Leserinnen und Leser. Und während andere Mediengewächse der 90er Jahre inzwischen längst wieder aufgeben mussten (z.B. "Atmoda", "Labrīt"), wurde DIENA zwar 1993 im Zuge der Firmenprivatisierung vom schwedischen Medienkonzern Bonnier aufgekauft, konnte aber das damals bereits existierende Konzept weiterentwickeln. Lediglich der Versuch, parallel auch eine Ausgabe in russischer Sprache zu produzieren, musste im Jahr 2000 wieder abgebrochen werden.
Zwar gab es um die politische Ausrichtung der DIENA auch in den vergangenen Jahren bereits einige Diskussio
nen - zum Beispiel während der Auseinandersetzungen um das Demokratieverständnis der Regierung Kalvitis (siehe auch: "die Cappuccino-Revolution") warfen politische Beobachter der DIENA Populismus vor, der zunehmend eine nüchterne Analyse und Distanz zum politischen Geschehen ersetze (damals kletterten auch DIENA-Journalisten öffentlich auf die Bühne der Protestveranstaltung).

Ein Mediendeal

Nun, dieser Teil der Pressege-schichte endete Anfang Juli diesen Jahres. Bonnier gab bekannt, DIENA und "Dienas Bizness" für zusammen 9 Millionen Lat (ca. 12,8 Mill. Euro) verkauft zu haben. Als Grund wurden vor allem die drastisch eingebrochenen Umsätze auf dem lettischen Werbemarkt genannt - um 30% schrumpften die Einnahmen durch Anzeigen innerhalb kurzer Zeit.
Als Käufer trat der 34 Jahre junge Aleksandrs Tralmaks auf, ehemals Generaldirektor und langjähriger Vorstandsassistent des Unternehmens. Klar war bei diesem Kauf zwar, dass Tralmaks als Alleininhaber der Firma "Nedela S.A." der Käufer war. Unklar aber blieb bis vor kurzem, welche Absichten und auch welche Geldgeber hinter dieser Person und dieser Firma steckten. Registriert war "Nedela S.A." in Luxemburg, auch in Deutschland als Steuerparadies bekannt. Und Tralmaks verkündigte damals lediglich, er habe einen Fond gegründet und suche Investoren für den Medienmarkt. Dieser Fond musste offenbar sehr schnell gegründet werden, da Bonnier entschlossen war, die eigene Beteiligung an DIENA zum 3.Juli bereits zu beenden (siehe "Dienas Bizness" 8.7.09). Der Kauf konnte nur mit der Aufnahme eines Kredits abgeschlossen werden, dieser wiederum hatte erneut luxemburgische Quellen (Luxembourg Financial Services LFS).

Aus deutscher Sicht wäre sicherlich an dieser Stelle irgendwo sicherlich auch das Wort "
Heuschrecken" gefallen - das Schimpfwort für global agierende Finanzspekulanten, die mit Aussicht auf schnelle Gewinne Firmen verkaufen, kaufen, liegen lassen oder verdeckt spekulieren (Stichwort: Hedge-Funds). Die Aussage Tralmak's, der Kauf der DIENA solle sich für die Investoren innerhalb 3-5 Jahren lohnen, lässt ebenfalls in erster Linie auf Maßnahmen zur Kosteneinsparung und Gewinnmaximierung schließen.

Spekulanten und Spekulationen
Seitdem dauerten Spekulationen und Diskussionen um die mögliche Zukunft dieser beiden in Lettland bisher so einflußreichen wie angesehenen Medien an. Aber mit der Bekanntgabe der hinter dem Finanzdeal mit "DIENA" und "Dienas bizness" stehenden Käufer war offenbar doch ein Schlußpunkt auch der internen redaktionellen Diskussionen erreicht. Am 9.Oktober versuchte "
diena.lv" selbst noch die "Informationshoheit" zu wahren, und gab Details zu David Rowland und seine "Blackfish Group" (registriert auf der Kanalinsel Guernsey - noch so ein Steuerparadies) bekannt. Rowland gilt als der größte Einzelspender der Konservativen Partei in Großbritannien. Aber auch der Hinweis, Vater David Rowland stehe auf Platz 66 der reichsten Menschen in Großbritannien, und Sohn Jonathan Rowland habe bereits im Alter von 24 seine erste Million gemacht, beeindruckte offenbar insbesondere die Redaktionsmitarbeiter/innen nicht. Auf interessante Art und Weise verknüpfte sich damit auch die Finanzkrise in Lettland mit den europaweit noch bekannter gewordenen Folgen der Finanzkrise in Island: Rowling hatte kürzlich auch die bankrotte Kaupthing-Bank aus Island gekauft und als "Banque Havilland" wiedereröffnet (siehe "Islandtalks").

Der Ausstieg
Noch am gleichen Tag - dem 9.Oktober - gaben drei der bekanntesten journalistischen Akteure bei DIENA vor der Presse bekannt, dass sie ihre Kündigung eingereicht haben: die leitenden Redakterinnen
Anita Brauna, Nellija Ločmele und Pauls Raudseps. Raudseps bezeichnen manche Medienanalytiker auch als einen der "Gründer der DIENA" (er war anfangs mal Miteigentümer, und genoss seine Ausbildung in den USA, ist auch Vorstandsmitglied bei der Anti-Korruptions-NGO "DELNA"). Und am Ende dieses Tages waren es insgesamt schon 14 Journalistenkolleg/innen, die ihren freiwilligen Rückzug bekannt gegeben hatten. Ein kleines medienpolitisches Erdbeben in Lettlands Hauptstadt.

Medientechnisch bestens auf der Höhe der Zeit, schilderten die "Aussteiger/innen" den Verlauf der Ereignisse aus ihrer Sicht gleich mal
in einem eigens eingerichteten Blog: demnach hatte die Auseinandersetzung zwischen Geschäftsführer Tralmaks und einigen seiner besten bisherigen Mitarbeiter/innen längst den Ton eines höflichen Austauschs von Argumenten verlassen. Tralmaks warf einigen "schlechte Arbeit" und "böse Absichten" vor, und ließ ihre persönlichen Sachen durchsuchen. Die verbliebenen Mitarbeiter/innen der Redaktion mussten eine nahe gelegene Kneipe aufsuchen, da ihnen der Kontakt mit den zwei geschassten bisherigen Chefredakteurinnen Anita Brauna und Nellija Ločmele in den Geschäftsräumen der DIENA verboten worden war.

Was bleibt? Ein Scherbenhaufen? An den folgenden Tagen filmten lettische Fernsehteams eifrig die leeren Stühlen in der DIENA-Redaktion. Weitere bisherige "Köpfe" der DIENA geben ihren Abschied bekannt. Das schließt ein den bisherigen Chefkommentator Askolds Rodins (der zweite Chefkommentator Aivars Ozoliņš ist gegenwärtig noch in Urlaub), der Karikaturist "
Ernests", die Filmemacherin und freie Journalistin Laila Pakalniņa, und Kulturredakteurin Māra Misiņa.
Die Konkurrenz der "Latvijas Avize" zitiert beinahe genüßlich Zahlen, nach denen bereits bis zum 13.Oktober 91 Abo-Kündigungen bei DIENA eingegangen sind (Abo-Zahlen für Oktober: 24.617).

"Eigentümer kommen und gehen", schreibt Journalistenkollege Viktors Avotiņš am 13.10. in der
'Neatkarīgā', aber "es ist zu bedauern, dass diese Eigentümer den lettischen Journalismus degradieren." Andere (Kurmītis, ebenfalls NRA) weisen darauf hin, dass "Dienas Bizness" im Gegensatz zu DIENA es geschafft habe, profitabel zu arbeiten. Ein anderer bekannter Journalist Lettland,

Diena

23.11.1990 - 10.10.2009
RIP

Die DIENA-Aussteiger/innen dementieren bisher, eine neue Zeitung gründen zu wollen. Na, wie heißt es noch so schön auf Deutsch-Bayrisch: Schau'n mer mal.

Der "Aussteiger-Blog" CitaDiena (= "anderer Tag")

Der "Aussteiger-Blog-Nachfolger": neue Webseite www.citadiena.lv

6. Oktober 2009

Wetten Sie nicht auf Daugavpils!

Die lettische Nachrichtenagentur LETA teilte es am 5.Oktober ganz schlicht mit: die Herren-Fußballmannschaft "Dinaburg" aus Daugavpils wird ab sofort vom Spielbetrieb der ersten lettischen Fußball-Liga (LMT) ausgeschlossen. Grund: Mitspieler und Angestellte des Klubs sollen regelmäßig auf Spielergebnisse gewettet haben. Zusätzlich sollen auch Dinaburg-Präsident Olegs Gavrilovs und sogar der Trainer Tamaz Pertiya lebenslang gesperrt worden sein, so LETA.

Klubchef Gavrilovs - der sich völlig überrascht gibt angesichts dieser harten Reaktionen - wurde bereits 2005 des Kontakts zu Wettbüros verdächtigt, und der Klub Dinaburg sogar bereits 2007 einmal für ähnlicher Vergehen bestraft. Nun also der endgültige Ausschluß.
Dabei lassen die Pressemeldungen noch viele Details im Unklaren. Klar ist vorerst
nur, vor welchem Hintergrund Dinaburg schon 2007 bestraft wurde: ein Spiel gegen eine Mannschaft aus Narva war auf mysteriöse Weise 0:2 verloren worden, beide Tore wurden ganz kurz vor Schluß erzielt. Es gab verdächtig hohe Wetten auf genau dieses Ergebnis bei den Wettbüros, und in estnischen Medien war damals zu lesen: "Dieses Ergebnis war abgesprochen." Es gab damals auch Videoaufzeichnungen, die haarsträubendes Verhalten der Dinaburg-Spieler dokumentierten, um die beiden Tore zu ermöglichen.

Damals wie heute gibt es Reaktionen auch von Dinaburg-Präsident Gavrilovs. "Ich weiß nichts von Wettbüros", so 2007 die Schlagzeile des lettischen Internetportals "Sportacentrs" (16.3.07, 5.10.09). Gavrilovs gab sich 2007 geschockt und behauptete, die Spieler der Erstliga-Fußballer aus Daugavpils seien in dem Match gegen Narwa "zu Spielende am Ende ihrer Kräfte gewesen", daher der plötzliche negative Ausgang. Den Informationen von "Sportacentrs" zufolge waren die verdächtigen Wetten bei asiatischen Buchermachern getätigt worden.

Der neuerliche Ausschluß des FC Dinaburg vom Spielbetrieb wird gemäß Äusserungen von
Jānis Mežeckis, Generalsekretär des lettischen Fußballverbands LFF, mit "Verbindungen zu Wettbüros" begründet, aber auch in Absprache mit der UEFA getroffen. Der konkrete Vorwurf lautet, dass die zwei vergangenen Spiele am 24.August gegen "Daugava Riga" und am 10.September gegen "Blāzma Rēzekne" mit dem einzigen Zweck absolviert worden seien, um am Totalisator Gewinne zu erzielen.
Inzwischen bekräftigte Gavrilovs gegenüber der Zeitung "Neatkarīgā Rīta Avīze", dass
der FC Dinaburg gegen den Beschluss des Fußballverbands vor Gericht ziehen werde, und weigerte sich gleichzeitig, Fragen nach der Zukunft der einzelnen betroffenen Spieler zu beantworten. Der LFF hofft auch auf die juristische Unterstützung durch die UEFA, und beide Parteien - Beklagter wie der anklagende Fußballverband - hoffen und behaupten, das Ergebnis des anstehenden Verfahrens werde "ganz Europa als Beispiel dienen". Na denn, nur zu, meine Herren!!

LFF Pressemeldung

LFF Stellungnahme (audio) zum Herunterladen

5. Oktober 2009

In der Krise weniger Gäste

Die Beherbergungsbetriebe in Lettland verzeichnen den zweithöchsten Rückgang unter allen EU-Ländern - das berichtete kürzlich "financenet.lv", und stützt sich dabei auf Zahlen von EuroStat. In der vergangenen Wintersaison (November 2008 bis April 2009) sank demnach die Zahl der Touristen in Lettland um ganze 18,1%. Größer sei der Rückgang nur noch im baltischen Nachbarland Litauen gewesen. 

Insgesamt übernachteten in lettischen Hotels und anderen Unterkünften im besagten Zeitraum 905.000 Gäste, gegenüber 1.105.000 im Jahr davor. Der größte Rückgang war dabei allerdings bei den Gästen aus dem eigenen Land zu verzeichnen: 33,3%, also ein glattes Drittel.Im Verhältnis machen die Gäste aus dem Ausland etwa zwei Drittel (603.000) der Gesamtgästezahl aus, der Rückgang war in diesem Bereich bei 7,6%. In Deutschland - auch das ist den EuroStat-Zahlen zu entnehmen - ging die Touristenzahl in der vergangenen Wintersaison nur um 3% zurück. Nur Slowenien und Österreich hatten noch geringere Ausfälle.

Diese Zahlen werden ergänzt durch eine Meldung der Agentur LETA (wiedergegeben bei NRA, reitingi), die Zahlen aus dem 2.Vierteljahr 2009 zitiert. Der Gästerückgang in lettischen Hotels betrug demnach satte 30%, bei Gästen aus dem Ausland (hier wird ein Prozentanteil von 71 angegeben) waren es 19% Rückgang. An dieser Stelle wird auch die Zahl der insgesamt in Lettland verfügbaren Gästezimmer genannt: 14.800 (= Bettenzahl 33.000). Dies war eine Steigerung gegenüber 2008 um 13%.

Also: waren es bei Eintritt in die EU in Lettland noch zu wenig Gästebetten und Hotels - sind es jetzt zuviel? Wer jetzt investiert, bzw. gerade neue Häuser eröffnet, wird es schwer haben.

Das Magazin Kapitāls geht daherauch schon einen Schritt weiter und sagt Hotelschließungen zum Ende dieser Saison voraus. Zitiert wird dabei Santa Graikste, eine Sprecherin des lettischen Hotel- und Gaststättenverbands (Latvijas Viesnīcu un restorānu asociācija LVRA). Graikste sagt besonders den kleineren Hotels Schwierigkeiten voraus, die weit von Riga entfernt liegen. 

80% aller ausländischen Hotelgäste bleiben gegenwärtig in Riga, weitere 8% in Jurmala. Erstaunlich dabei, dass von den lettischen Hotels über eine zu hohe Steuerlast klagen: in Estland, Polen, Finnland, und.... - Westerwelle, hör zu - auch in Deutschland sei die Steuerlast für die Hotels günstiger.