4. Januar 2008

Letten bringen Gebrauchtwagen zurück

Erinnern Sie sich? Zu Anfang der 90er Jahre, Lettland hatte sich gerade wieder den Status einer unabhängigen Republik erkämpft, und vor der neu eingerichteten deutschen Vertretung in Riga (zunächst provisorisch im Hotel Ridzene, dann am Aspazijas Blv - erst später im jetzigen Gebäude) standen lange Menschenschlangen, die auf Erteilung eines Besuchsvisums nach Deutschland warteten. Es war nicht einfach, der Austausch zwischen Ost und West, und aus lettischer Perspektive war es auch durchaus unsicher, ob diese Unabhängigkeit lange halten würde.
Wer dann als Besucher/in aus Lettland in Deutschland ankam, hatte viele bürokratische Hürden - und noch dazu einige real existierende Grenzen inklusive Kontrollen - bereits überwunden.

Der weitaus am meisten geäußerte Wunsch von lettischer Seite damals - sei es Arzt, Bürgermeister, Händler, Chormitglied oder Öko-Aktivist - war derjenige nach einem Auto aus dem Westen. Der Wunsch nach einem "Gebrauchtwagen" wurde fast zum geflügelten Wort, bzw. Synonym für manches andere. Dauerte ein Besuch eine Woche, konnte man sicher sein, spätestens am vorletzten Tag - unter Ankündigung eines dringenden, persönlichen Wunsches des Gastes - mit der Sehnsucht nach einem Auto aus dem Westen konfrontiert zu werden. Schon damals, trotz der noch viel krasseren Wertigkeit der jeweiligen Währungen und Monatslöhne, waren die reisenden Letten bereit, alles verfügbare zusammenzukratzen, nur um eine Chance auf einen Gebrauchten zu bekommen. Selten durfte er mehr als 1000 DM kosten. Manchmal steigerten sich diese Begierden auch: dann durfte es mal ein Kleintransporter, ein ausrangierter Jeep aus NVA-Beständen, oder auch ein ganzer Bus sein. Das "könntest-Du -nicht?", "wäre-es-nicht-vielleicht-möglich" war allgegenwärtig.

Später, beim Besuch in Lettland, waren viele dieser Autos selbst auf einsamen Bauernhöfen wiederzufinden. Zu sehen waren viele Wagen dieser älteren Baujahre jedenfalls, manchmal aufgebockt, in Reparatur befindlich, umgebaut, oder einstweilig abgestellt.

Ein Zeitsprung. Haben Sie auch von der Absage der Rallye Paris-Dakar 2008 gehört?
In Estland (wo es schon international bekanntere Rallye-Fahrer gibt) wie auch in Lettland ist Rallye der typische Sport der ländlichen Regionen. Es gibt eine Reihe von "Motodromen", auf denen mit Karossen entweder 'sportlich schick' oder 'schräg und alt' Rennen gefahren werden. Motorradsportler Jānis Vinters wäre einer der aussichtsreicheren Teilnehmer bei der Paris-Dakar gewesen (Startnr. 6 - er belegte 2007 Platz 6). Mit den Startnummern 300 und 337 (u.a.) hätte es zwei weitere lettische (Auto-Motorsport)-Teams gegeben, die ab dem 5.Januar nach Dakar aufgebrochen wären. "Ich gebe zu, mein Traum wäre es, die Dakar auch mal zu gewinnen", äusserte Vinters noch am 2.Januar im Interview mit Delfi-Autosport. - Doch wozu trauern, wenn es doch die "Alternativ-Rallye" gibt? Paris-Dakar ist tot - es lebe die "Plymouth-Dakar Challenge"!

"Mit altersschwachen Autos durch Westafrika" - so beschrieb es vor drei Jahren DIE WELT. Gemeint ist die Idee des Briten Julian Novill, ein Börsenmakler. "Ich wollte zeigen, daß man die Strecke auch mit weit weniger Aufwand bewältigen kann," so wird er vielfach zitiert, und eigentliches Ziel seines Wettbewerbs ist nicht Dakar, sondern Banjul in Gambia. Im Dezember 2002 starteten erstmals 45 Teilnehmer/innen diese Tour, und hier sind die Regeln:
1) Die teilnehemenden Autos dürfen nicht mehr als 100 englische Pfund kosten
2) Maximal erlaubtes Budget für die Rallye-Vorbereitung: 15 Pfund
3) Wenn die Rallye einmal gestartet ist, sind alle Team nur für sich selbst verantwortlich, können keine Hilfe von den Organisatoren einfordern
4) Alle teilnehmenden Autos, die in Banjul ankommen, müssen den Organisatoren überlassen werden; sie sind als Spend
e für wohltätige Zwecke in dieser Region einzusetzen.
5) Alle Fahrzeuge müssen das Steuer links haben.
Dazu wird eine Erläuterung von Gründer Julian Novill gesetzt: Alle Regeln sind dazu da, um vielleicht übergangen zu werden - außer Regeln Nr. 4 & 5.
Will sagen: wenn Du mehr ausgibst, ist es okay, solange das Fahrzeug am Ziel auch gespendet wird.

Unterliegt nun dieses (noch abenteuerlichere) Unternehmen keiner Terror-Gefahr? Brutal gesagt fällt das wohl schlicht unter Regel 3. Entscheidend ist aber auch, dass jede/r Kandidat/in (eine offizielle Anmeldung und Zusage vorausgesetzt) ja zu Hause losfährt: Plymouth-Banjul ist längst gestartet! Bis Mitte Januar gehen 9 verschiedene Gruppen von Teilnehmer/innen an den Start, "berechnet" ist die Route Plymouth-Banjul für 22 Fahrtage.
Alle teilnehmenden Teams (Empfehlung der Organisatoren: 2 Personen pro Auto) berichten virtuell an die gemeinsame Webseite, also SMS aus der Wüste, Berichte per Laptop oder Handy sind hier also angesagt. So wild die Autos, so abgefahren die Team-Namen: Es gibt die "Bishop-Bangers", "Roaring Forties", "Time not money", oder "Desert-Skunks". In der großen Mehrheit sind die Teams aus dem großbritischen Königreich (klar, schon wegen des Startpunkts) und Irland. Immerhin vier deutsche Teams sind dabei: "Pommes-Express", "Jägerschnitzel", "Kraut'n custard", (soweit alles kulinarisch orientiert, offenbar), und noch das Team "On tour again".

Aus dem kleinen Lettland aber kommen die meisten Teams außerhalb der britischen Insel - gleich 17 Autos sind unterwegs: "Saldus", "White Swan", "Desert-Lox-Lv1", "Desert-Lox-Lv2", "Rigas Jackals", "Banzai", "Team H", "Quattro Power", "Vecaku Rally Team", "2 Polecats in a Car", "Cesis-Team", "Papa Friends", "Developer.lv", "Lama-Team", "Wurth-Team", und "2103". Für das meisten Aufsehen vor dem Start in Lettland sorgte das Zwei-Frauen-Team "Blondie Tour".

Und hier die Auflistung der von den Lett/innen ver- wendeten Autos: ein VW-Passat, ein Volvo 240 (siehe Foto - inklusive der in Volkstracht posierenden "braucēji" Marcis und Guntis), zwei Mercedes 250, fünfmal Lada, ein Honda Civic, je einmal 'Audi80' 'Audi Sedan' und 'Audi Avant', ein Toyota Camry, ein VAZ, ein Niva 2121, und ein Fiat Chroma.

Und? Liest sich das nicht wie eine Aufstellung derjenigen motorisierten fahrbaren Untersätze, die in den frühen 90er Jahren "available" waren? Worin vielleicht die ersten Touren "in die freie Welt" unternommen wurden, die wilde Partys aushalten mussten, oder deren Fahrer/innen sich über die typischen lettischen Schotterstraßen trauten?

Sicher ist, dass sämtliche lettischen motorisierten Abenteurer in erster Linie "Spaß haben" wollen - nur sind eben inzwischen Fahrziele und internationale Zusammenhänge andere geworden. Auch der "Gebrauchsweg" eines Autos Lettland-Irland-Gambia wäre so möglich (alles selbst gefahren, inklusive selbst verdientes Geld zwischendurch?). Das Auslandsportal der Lett/innen (latviesi.com) interessierte sich ebenfalls am meisten für die beiden "Blondinen aus Liepaja", Ieva und Zane, 20 und 21 Jahre jung, die übrigens nicht zum ersten Mal mitfahren. "Heiraten wollen sie vorerst nicht", schrieb DIENA am 27.Dezember. Die beiden sammeln immer noch das Geld, was sie zum Ankommen brauchen: 1250 Lat fehlen ihnen (Stand heute) noch, so sagt die Webseite aus. Und: "wir wollen geholfen werden", verkünden sie als Appell an die männlichen Kollegen. Gegenseitige Hilfe ist bei dem gruppenweisen Start sowieso Teil des Erfolgs jeden Teams, denn ums "zuerst ankommen" geht es nicht. In Liepaja fand Mitte Dezember eine große Abschiedsparty statt ("eine Nacht in Afrika"), schließlich gibt es auch unter lettischen Musiker/innen schon "Afrika-Eroberer" (wie Nils Īle und seine 'Afroambient').

Lettland erobert die Welt - immer ein Thema, zumindest in Lettland selbst. (nun auch in diesem Blog ...)

Zum Weiterlesen:
Webseite
Jānis Vinters - Pressemitteilung zur DAKAR-Absage

Interview mit
Jānis Vinters im lettischen "Motojournal" (lettisch)

Interview mit Delfi-Autosport, inklusive einer Liste der bisherigen lettischen Resultate bei der Paris-Dakar (lettisch)

Zur "Plymouth-Dakar-Challenge"
Beitrag in DIE WELT

Offizielle Webseite "Plymouth-Dakar-Challenge"

Offizielle Webseite "Plymouth-Banjul"

Die Regeln der Plymouth-Dakar-Challenge

Was bei Wikipeda dazu steht

Bericht bei "Latviesi.com" (lettisch)

Bericht DIENA (lettisch)

Bericht in Kurzemes Vārds (lettisch)

Blogs von lettischen Teilnehmer/innen 2008:
Riga-Dakar-Blog Zigulis.lv

Tagebuch der "Blondie-Tour"

1 Kommentar:

lacplesis hat gesagt…

Auf www.marathonrally.com ist nachzulesen, was Deutsche von Rallyes in Lettland halten.
(www.marathonrally.com/ 03-database/reportage_04_latvian.html)

Zitat:

"Obwohl im Roadbook eingezeichnet erwischte uns gleich zweimal eine Radarkontrolle vor einer 'Ortschaft'. Wobei der Begriff 'Ortschaft' aus lettischer Sicht sehr locker genommen wird. Verkehrs- und Ortsschilder suchten wir jedenfalls vergeblich, der 'Ort' bestand aus zwei bis drei in der Landschaft vertreuten Häusern. 103 km/h beim ersten Blitz, 113 km/h beim Zweiten - das kostete uns eine Stunde Strafzeit. Hätten wir die Strafzeit nicht bekommen, wären wir am Ende der Veranstaltung in der Motorradklasse unter die ersten Drei gekommen."

Ist denn Rallye-Fahren nur ein Sport zum Austoben? Lettland wie auch Afrika könnte man auch anders kennenlernen.